John Cage in Halberstadt

Die Entdeckung der Langsamkeit

Wie langsam muss sich etwas vollziehen, damit es maximal langsam ist? Und wie lange wird es dauern, bis ein angestrebtes Ende erreicht ist? Diese weniger physikalische als philosophische Fragestellung stand am Beginn eines einmaligen Projekts, das viele für eines der größten Kunstwerke überhaupt halten, andere dagegen schlicht für Spinnerei. An diesem Sonntag feiert es seinen 20. Geburtstag – und steht doch noch ganz am Anfang. 

In Halberstadt, der ehemaligen Bischofsstadt in Sachsen-Anhalt, wird ein Werk aufgeführt, das das Schneckentempo bereits im Titel führt: „As slow as possible“ (So langsam wie möglich) ist das Opus überschrieben, das die Jahrhunderte überspannen soll. Komponiert – oder vielleicht besser: erdacht – hat es der US-amerikanische Musiker und Philosoph John Cage (1912 bis 1992). 

Sehr, sehr viel Zeit

Dessen Fans sind einiges gewöhnt, aber in Halberstadt, dem „Tor zum Harz“, müssen auch sie Neuland betreten. Für die Aufführung von Organ²/ASLSP – Letzteres steht für „As slow as possible“ – hat man auf die Frage nach der maximalen Langsamkeit eine Antwort gefunden. Es soll sehr, sehr viel Zeit vergehen, bis das Stück aufgeführt sein wird: auf den Tag genau 639 Jahre – länger, als man am Kölner Dom gebaut hat. 

„Es ist ein Projekt der Hoffnung“, erklärt Rainer Neugebauer. „Sollte die Aufführung ungestört ihr Ende erreichen, hätte man hier die längste Zeit in der Geschichte ohne Krieg und Zerstörungen erlebt.“ Neugebauer ist Vorsitzender des Kurato­riums der John-Cage-Orgel-Stiftung, die das Projekt betreut. 

Auf dem Weg zum Aufführungsort, der fast 1000 Jahre alten Burchardi-Kirche, erklärt der Sozial­wissenschaftler, dass „As slow as possible“ mitnichten „Das längste Musikstück der Welt“ ist, wie es die Stadt auf ihren Hinweisschildern behauptet, die die Cage-Fans leiten sollen. „Es ist vielmehr eine der langsamsten Realisierungen eines Musikstücks“, sagt Neugebauer.  

Die Burchardi-Kirche liegt am Rand der Innenstadt. Man betritt einen ausladenden Hof mit Schuppen, Sozialkaufhaus und alter Kastanie im Zentrum. Dahinter liegt das Cage-Haus, der Sitz der Stiftung. Die schlichte Kirche ist der letzte Hinweis darauf, dass hier einst ein Kloster existierte. Nähert man sich dem früheren Gotteshaus, das nach der Säkularisierung auch mal als Schweinestall herhalten musste, will ein immer deutlicher werdendes Geräusch nicht mehr aus dem Ohr weichen. 

Eher Ruine als Sakralbau

Hinter der einfachen Holztüre der früheren Klosterkirche stellt man überrascht fest, dass die kleine Kirche eher einer Ruine ähnelt als einem Sakralbau. Gleich rechts bietet ein Stand Souvenirs feil. Aber zum Wundern bleibt kaum Zeit, zu allgegenwärtig ist nun das sonore Dröhnen, das bisweilen zu vibrieren scheint. Etwas Maschinenhaftes charakterisiert den vollen und ein wenig beunruhigenden Klang. Kein Rhythmus ist zu vernehmen, keine Melodie. Musik klingt anders. 

Um die Herkunft des Klangs zu ermitteln, genügen ein paar Schritte zum Querhaus. Links sieht man einen gewaltigen Blasebalg, auf der gegenüberliegenden Seite eine Holzkonstruktion auf einem Podest: eine Orgel im Miniaturformat. Mittlerweile sind sieben kleine und etwas größere Pfeifen im Einsatz, Sandsäckchen fixieren die Tasten und garantieren, dass die Ventile offen bleiben. Musiker braucht es hier nicht. Der strombetriebene Blasebalg ist im Dauereinsatz und pustet Luft in die Orgelpfeifen. 

Rainer Neugebauer, der vor vielen Jahren nach Halberstadt gekommen ist, um die Hochschule Harz mit aufzubauen, blickt auf die Anfänge des Orgel-Kunst-Projekts zurück: „1998 haben die Teilnehmer einer Tagung für neue Orgelmusik in Trossingen die Idee entwickelt, ­Organ²/ASLSP­­ aufzuführen.“ Durch persönliche Kontakte kamen Halberstadt und die leerstehende Burchardi-Kirche ins Spiel. 

Fahrt aufgenommen hat die Sache mit der Erinnerung an die erste Großorgel mit einer zwölftönigen Klaviatur. Nicolaus Faber hatte das seinerzeit modernste Instrument für den Halberstädter Dom konstruiert. 1361 war es geweiht worden. „Das Jahr 2000 wurde dann als Spiegel­achse festgelegt, was bedeutet, dass die 639 Jahre, die seit der Orgelweihe bis dahin vergangen waren, die Spieldauer von Organ²/ASLSP ergeben soll“, erklärt Neugebauer. 

Geburtstag von John Cage

Der 5. September, der Geburtstag von John Cage, wurde als Startdatum festgelegt. Da der Blasebalg erst 2001 seinen Dienst aufnehmen konnte, wird die Aufführung, wenn alles wie gewünscht verläuft, am 5. September 2640 ihr Finale erleben. Das allerdings ist alles andere als gewiss. Denn dem national und international viel beachteten Projekt droht die Luft auszugehen. 

„Wir haben in 20 Jahren zwar rund eine Million an Sponsorengeldern eingeworben“, sagt Neugebauer, „eine dauerhafte institutionelle Förderung fehlt jedoch.“ Immerhin konnten Kirche und Cage-Haus für einen Euro von der Kommune gekauft werden. „Doch wir brauchen dringend Hilfe, in finanzieller und personeller Weise“, blickt der emeritierte Wissenschaftler besorgt in die Zukunft. 

Gott und Che Guevara

Alle sogenannten Klangjahre sind bereits verkauft: Kleine Metalltafeln, für jedes der 639 Jahre eine, konnten von Fans und Unterstützern des Projekts erworben und mehr oder weniger individuell betextet werden. Sie hängen an einer Stahlschiene, die über die schrundigen Wände der Kirche verläuft, und stoßen auf großes Interesse. „Die einen vertrauen auf Gott, andere setzen mit Che Guevara auf die revolutionäre Fantasie ‚Seien wir rea­listisch, versuchen wir das Unmögliche‘“, fasst Neugebauer zusammen. 

Ihre Stifter berufen sich auf Johann Sebastian Bach ebenso wie auf den US-Soulsänger Marvin Gaye. Sie zitieren Moses Mendelssohn, Ernst Bloch und Joseph Beuys, der vermutete: „Die Ursache liegt in der Zukunft.“ Die Tafeln sind ein eindrucksvolles Indiz für die Faszination, die das Cage-Projekt auf die Spender ausgeübt hat, die sich mit ihrer Unterstützung von Organ²/­ASLSP auch einen Platz in der Ewigkeit sichern möchten. 

Zeit ist wie eingefroren

Ein wenig lenkt die Lektüre der Texttafeln von der Konzentration auf den Klang ab. Der aber ist notorisch und gibt nicht nach. Wer sich einlässt auf diese Erfahrung, die weit über das Musikalische hinausweist, wird rasch die große Distanz zu den Parametern feststellen, die aktuell den Lauf der Zeit bestimmen. 

In der Burchardi-Kirche steht die Zeit zwar nicht still, wirkt aber wie eingefroren. Entschleunigung statt der permanenten Aufgeregtheit dieser Tage, für die es die Corona-Pandemie und ihre Folgen gar nicht gebraucht hätte. Der Klang-Raum entfaltet meditative und spirituelle Wirkung. Die optimistische Grundstimmung, die hier herrscht, ist ansteckend. 

Es sei ein verrücktes Projekt, gibt Rainer Neugebauer unumwunden zu. „Die herkömmlichen Erwartungen an ein Konzert werden nicht erfüllt. Aber ich kenne Menschen, nicht nur Musiker, die stundenlang in der Kirche sitzen und lauschen.“ Auch der Zuspruch zu den Klangwechseln sei enorm. Dann erklingen neue Orgelpfeifen oder ein Klang endet. Am 5. Februar 2022 steht der nächste Wechsel auf dem Spielplan. Nachdem im September 2020 zwei neue Pfeifen eingesetzt wurden und ein gis sowie ein e’ das Klangspek­trum erweiterten, wird im nächsten Jahr das gis wieder verstummen. 

Kritik an dem Projekt äußerte ausgerechnet der Organist Gerd Zacher. Er bedauerte, dass aufgrund der Länge der Aufführung die menschliche Komponente fehle. Der 2014 verstorbene Musiker, dem Cage Organ²/ASLSP gewidmet hatte, beendete das Stück bei der Uraufführung 1987 etwas zügiger als die Halberstädter –- nach rund 29 Minuten. Festgelegt hat Cage in seinem wenige Seiten umfassenden Notentext nur die Tonhöhe und die relative Dauer der Klänge. 

„So lange, wie ihr wollt“

Cage indes dürfte mit der Halberstädter Inszenierung zufrieden sein. „‚Macht es so lang, wie ihr wollt‘, sagte er in der Regel zur Aufführungspraxis seiner Stücke“, weiß Neugebauer, der Cage 1979 live erlebt hat. Jeder Klang galt ihm als Musik. Die Konzentration solle auf den einzelnen Ton gerichtet sein, nicht auf eine Vielzahl aufeinander folgender. Außerdem forderte er, die Subjektivität des Komponisten zurückzunehmen. So erstaunt es nicht zu erfahren, dass Organ²/ASLSP mit Hilfe eines Zufallsgenerators entstanden ist. 

Auf den Zufall will sich die John-Cage-Orgel-Stiftung in Halberstadt nicht verlassen. Die Stromrechnung muss schließlich bezahlt werden, damit der Blasebalg weiter pusten kann. Denn nur dann kann eintreten, was der Schriftsteller Bruno Preisendörfer auf seiner Spendertafel verewigen ließ: „Es wird einmal gewesen sein.“

Ulrich Traub

02.09.2021 - Kirchenmusik , Kultur , Musik