Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück

Die Ordensfrau, die freiwillig ins Gas ging

Es ist der 30. März 1945: Karfreitag. Am Tag des Todes Jesu opfert die Oberin des Ordens der Barmherzigen Schwestern „Unserer Lieben Frau vom Mitleiden“ ihr Leben für eine Mitgefangene. Stellvertretend für die Mutter geht Schwester Marie Élisabeth in die Gaskammer des KZ Ravensbrück. Nur wenige Wochen später ist der Krieg vorbei – und damit die Herrschaft der Nazis.

Marie Élisabeth wird am 19. Januar 1890 nahe Algier (Algerien) als Élise Rivet geboren. Nach dem Tod des Vaters, eines französischen Marineoffiziers, zieht sie mit ihrer Mutter nach Lyon. Dort tritt sie 1910 in den Orden ein und erhält den Namen Marie Élisabeth von der heiligen Eucharistie. Vornehmlich arbeitet sie als Erzieherin, will auch Kindern aus ärmeren und verwahrlosten Haushalten eine Berufsausbildung ermöglichen. 

„Ein Lächeln auf den Lippen – das Kreuz im Herzen.“

Das Engagement für ihre Schützlinge bleibt von ihren Mitschwestern nicht unbemerkt und führt dazu, dass Marie Élisabeth 1933 zur Generaloberin des Ordens gewählt wird. Dieses Amt wird sie bis zu ihrem Tod innehaben. In ihrem Charakter vereinen sich Frohsinn und Gradlinigkeit im Glauben. Sie selbst beschreibt ihr Wesen mit den Worten: „Ein Lächeln auf den Lippen – das Kreuz im Herzen.“

Nach der Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht im Sommer 1940 befielt ihr Gewissen, sich für ihr Land einzusetzen. Noch im selben Jahr nimmt sie Kontakt zum Widerstand auf, zur Résis­tance. Politisch Verfolgte nimmt sie auf und versteckt sie im Kloster: hauptsächlich jüdische Kinder und Erwachsene, denen der Tod droht. Schwester Marie Élisabeth versorgt ihre Schützlinge sogar mit gefälschten Pässen. 

Unauffälliger Transport

Bei den Hilfsaktionen unterstützt sie das Ehepaar Damien und Marie-­Rose Tronel. Deren Tochter Marie-­Josèphe übernimmt mit ihrem Fahrrad den unauffälligen Transport der jüdischen Kinder: Hat man zuverlässige Helfer gefunden, die eines der Kinder aufnehmen wollen, chauffiert Marie-Josèphe es vom Kloster zur aufnehmenden Familie. Kardinal Pierre-Marie Gerlier, der Erzbischof von Lyon, unterstützt die Hilfsvorhaben der Mutter Oberin. 

1941 trifft Marie Élisabeth mit Résistance-Mitglied Albert Chambonnet zusammen. Jener „Colonel Didier“ bittet die Ordensoberin, im Kloster Waffen verstecken und das Archiv des Widerstands dorthin verlegen zu dürfen. Die Ordensfrau stimmt dem waghalsigen Unternehmen zu. Das Risiko, welches sie nötigenfalls mit dem Leben bezahlen müsste, ist ihr bewusst.

Das Versteck verraten

Fast drei Jahre bleiben die Verstecke unentdeckt. Doch irgendjemand muss von dem Waffen­arsenal Wind bekommen haben und denunziert die Dominikanerinnen bei der Gestapo. Am 24. März 1944 nehmen die Deutschen Mutter ­Marie Élisabeth und ihre Assistentin, Schwester Marie Jésus, fest. Die im Kloster versteckten Waffen werden gefunden.

Die Leitung der Aktion liegt beim berüchtigten Gestapo-Chef von Lyon, Klaus Barbie. Er sollte als „Schlächter von Lyon“ in die Geschichte eingehen. Das Archiv der Résistance bleibt unentdeckt. Die beiden Ordensfrauen kommen zunächst für drei Monate in das Gefängnis Fort Montluc bei Lyon. Für die Mitgefangenen wird die Oberin zur guten Seele der Haftanstalt. 

Nach dem Krieg berichtet der ehemalige Insasse André Rivière-­Paysant: „Sie begrüßte die neuen Insassen mit ihrem ruhigen Lächeln, das uns nach dem Schock der Verhaftung und des Gefängnisses Kraft gab. Zusammen mit unserer Mutter – wie wir sie nannten – fühlten wir uns sicher, moralisch unterstützt und beschattet von einem übernatürlichen Hoffnungsschimmer.“

Dann aber kommen die beiden Ordensschwestern über ­Romainville und Saarbrücken am 24. Juli 1944 in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück im Norden Brandenburgs. Hier leben die geistlichen Frauen unter tausenden Mitinhaftierten. Überlebende bezeichnen Marie Élisabeth später als die „Seele des Lagers“, die „in dieser Atmosphäre des Todes durch ihre liebevolle Präsenz inmitten ihrer Mitgefangenen ein Zentrum der Gelassenheit und Hoffnung“ gewesen sei.

Als bei einem Appell Frauen für die Ermordung in der Gaskammer selektiert werden, nimmt die todkranke Oberin stellvertretend den Platz für eine fünffache Mutter ein. Ihr Lebensopfer trägt sie mit Würde und voller Mitgefühl für die anderen Todgeweihten. Ermutigend spricht sie zu ihnen: „Lasst uns gemeinsam gehen. Ich will euch helfen, in Frieden zu sterben.“ Die letzten überlieferten Worte der Ordensfrau mit der Häftlingsnummer 46921 lauten: „Ich breche auf zum Himmel! Gebt Nachricht in Lyon.“ 

Aus dem KZ evakuiert

7500 Frauen kann das Internationale Rote Kreuz nur sechs Tage nach dieser Mordaktion nach einer Absprache mit der SS aus Ravensbrück evakuieren. Am 3. Mai 1945 befreien Einheiten der Roten Armee andere Überlebende während eines Todesmarschs gen Westen. Die Assistentin von Mutter Marie Élisabeth, Schwester Marie Jésus, überlebt die Haft und kann in ihr Kloster heimkehren. 

Etliche Ehrungen wurden der mit 55 Jahren ermordeten Dominikanerin Élise Rivet zuteil. Straßen und Plätze tragen ihren Namen. 1945 erhielt sie posthum den französischen Kriegsverdienstorden „Croix de guerre“ mit Stern verliehen. 1962 widmete ihr die französische Post eine Briefmarke in der Serie „Helden des Widerstands“. Israel verlieh ihr den Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“. Besucher der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück können am Eingang eine Büste Marie Élisabeths entdecken.

Elmar Lübbers-Paal