Mehrfache Gefahr für Afrika

Drei Millionen Corona-Tote?

Corona tötet weltweit Hunderttausende. Millionen sind infiziert. Auf dem „Schwarzen Kontinent“ könnte die Pandemie besonders verheerende Folgen haben. Hier trifft das Virus auf zahlreiche Länder mit desolatem Gesundheitssystem.

„Diese Krankheit hat uns auf dieselbe Ebene gebracht. Reiche und arme Nationen – sie alle spüren die Last und können nur wenig dagegen tun“, sagt Ignatius Ayau Kaigama, Erzbischof im nigerianischen Abuja. Afrika könnte nach China, Europa und den USA zum neuen Corona-Epizentrum werden, befürchteten die Vereinten Nationen (UN). Bis zu drei Millionen Afrikaner könnten an Covid-19 sterben – je nachdem, welche Maßnahmen die 54 Regierungen zur Eindämmung treffen. 

Wenige Tage nach dieser Horrorprognose warnte die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“: „Da nicht einmal die Länder mit den fortschrittlichsten Gesundheitssystemen dem Coronavirus gewachsen sind, könnten die Folgen für Menschen in Ländern mit schwachen Gesundheitssystemen umso drastischer sein.“

Ob Johannesburg, Lagos oder Nairobi: Für europäische Augen wirken Afrikas Megastädte oft unüberschaubar chaotisch. Hochhäuser ragen in den Himmel, Menschen zwängen sich in Sammeltaxis. Auf den Märkten herrscht dichtes Gewimmel. Und noch etwas sticht hervor: Wo sind die Alten? Der Durchschnittsafrikaner ist 18 Jahre alt – nicht mal halb so alt wie der durchschnittliche Europäer (42).

„Tickende Zeitbombe“

Was Entwicklungsexperten in der Vergangenheit als „tickende Zeitbombe“ bezeichneten, eröffnet jetzt Perspektiven. In Corona-Zeiten beschäftigt Politiker, Ökonomen und Ärzte eine Frage: Kann Afrikas junge Bevölkerung ein Horrorszenario wie etwa in Italien, Spanien oder den USA verhindern? Das Durchschnittsalter der Todesopfer in Ita-lien lag bei über 80 Jahren. In Afrika sind gerade einmal drei Prozent der Bevölkerung über 65. 

Das müsste die Zahl der Afrikaner, die die Risikogruppe bilden, eigentlich drastisch senken. Doch ist Afrika nicht nur der Kontinent der Jugend, sondern auch der Kranken. Aids, Tuberkulose, Malaria, Polio oder Mangelernährung erwiesen sich in den vergangenen Jahrzehnten als Entwicklungsbremse. 

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO leben 70 Prozent der HIV-Infizierten auf dem „Schwarzen Kontinent“. Am stärksten betroffen ist Südafrika, wo jeder siebte Erwachsene das Aids-Virus in sich trägt. Zwar erzielte der Schwellenstaat zuletzt große Fortschritte im Kampf gegen die Immunschwächekrankheit. Mehr als vier Millionen Südafrikaner erhalten kostenfrei Medikamente. Allerdings wissen viele Betroffene noch nichts von ihrer Erkrankung oder haben noch keine Therapie begonnen. 

„Um sie mache ich mir Sorgen. Ihr klinischer Verlauf könnte jenem von älteren Menschen ähneln“, sagt Professor Salim Abdool Karim. Der Epidemiologe ist Chefberater des Corona-Krisenstabs der südafrikanischen Regierung. In den ersten Wochen der Krise wurde er im südlichen Afrika zum Gesicht des Kampfs gegen das Virus. Die Aussicht, wie eine Bevölkerung mit so hoher Aids- und Tuberkuloserate auf Corona reagieren könnte, macht ihm Sorgen.

Erschwert wird Afrikas Kampf gegen Covid-19 durch Konflikte und Armut. „In vielen Ländern haben die Menschen kaum Möglichkeiten, sich vor einer Infektion zu schützen, wenn sie zum Beispiel in einem Slum oder Lager leben oder kaum Zugang zu sauberem Wasser haben“, heißt es von den „Ärzten ohne Grenzen“. Die Helfer unterstützen den medizinischen Kampf in mehr als 40 Ländern weltweit, darunter zahlreiche in Afrika. 

Drastische Situation

Corona gefährdet laut WHO vor allem die „fragilen Gesundheitssysteme“ auf dem Kontinent. Während in öffentlichen Krankenhäusern in Europa durchschnittlich 4000 Intensivbetten auf eine Mil-lion Einwohner kommen, seien es in Afrika bloß fünf. Noch drastischer ist die Situation in Afrikas bevölkerungsreichstem Land Nigeria. Dort kommt laut einer Studie von 2017 ein halbes Intensivbett auf je eine Million Einwohner. 

Ähnlich sieht es bei Beatmungsgeräten aus. So berichtet etwa die US-Tageszeitung „New York Times“: „Der Südsudan, eine -Nation von elf Millionen, hat mehr Vizepräsidenten (fünf) als Beatmungsgeräte (vier).“ Weltweit konkurrieren Gesundheitsbehörden um Masken, Corona-Tests und lebenserhaltende Geräte. „Leider steht Afrika ganz hinten in der Warteschlange“, sagte der Vertreter eines deutschen Herstellers von Beatmungsgeräten gegenüber südafrikanischen Medien. 

Die kenianische Ärztin Neema Kaseje ist überzeugt: Afrika müsse sich auf ein „erhöhtes Auftreten von Covid-19 bei jungen Patienten“ einstellen. Anders als in Europa dürften die Fälle aber seltener glimpflich enden. 

Trauriges Beispiel ist Zororo Makamba. Der 30-jährige Fernsehmoderator hatte New York besucht, wo er sich mit dem Virus ansteckte. Ende März war er der erste Corona-Tote in Simbabwe. „Als wir im Krankenhaus ankamen, gab es dort weder ein Beatmungsgerät noch Medizin, selbst der Sauerstoff drohte auszugehen“, kritisiert seine Familie. 

Strenge Notverordnung

Afrikas Kampf gegen die Pandemie verläuft sehr unterschiedlich. Einige Staaten halten eisern an der Normalität fest, während andere Ausgangsbeschränkungen erließen. Die strengste Notverordnung trat Anfang April in Südafrika in Kraft. Joggen, im Park spazieren oder den Hund Gassi führen gehören damit der Vergangenheit an. Restaurants und Märkte mussten schließen.

Der „Lockdown“ traf viele Südafrikaner hart. In wenigen Wochen verlor jeder Zehnte seinen Job. Es kam zu Plünderungen von Supermärkten und Lebensmitteltransporten. Ähnliches könnte bald Alltag auf dem ganzen Kontinent werden, fürchten die UN. Demnach drohe die Corona-Krise, 27 Millionen Afrikaner in extreme Armut zu stürzen. Um das Überleben von Millionen zu sichern, bräuchte Afrika 92 Milliarden Euro an Soforthilfe. 

Seit die Pandemie auf Afrika übergriff, hat sich die Kirche als wichtiger Helfer erwiesen. In Nigeria stellten die Bischöfe der Regierung die mehr als 400 Kliniken im Besitz der katholischen Kirche zur Verfügung. In Simbabwe spendete die Nuntiatur medizinische Hilfsmittel im Wert von mehr als 18 000 Euro. In der Elfenbeinküste verteilten Kirchenvertreter Schutzmasken an Bewohner von Armenvierteln. „Kein Kirchenvertreter macht Urlaub“, sagt Pfarrer Emmanuel Chimombo von der Vereinigung ost-afrikanischer Bischofskonferenzen zur Situation.

Afrikas Misere sorgt mitunter auch für ethische Debatten. So mussten sich zwei französische Wissenschaftler für ihren Vorschlag entschuldigen, einen Impfstoff in Afrika zu testen – „wo es keine Masken, keine Behandlung und keine Wiederbelebungsmöglichkeiten“ gebe. Ärzte vor Ort unterstellten ihren europäischen Kollegen „Rassismus“. Der Panafrikanische Kirchenrat sprach von einer „Herabwürdigung Afrikas“. Man sei kein globales Versuchslabor. 

Probe für die Welt

Der Konflikt könnte erst der Auftakt gewesen sein – und Corona zur Solidaritätsprobe für die Weltgemeinschaft werden. „Wenn die ganze Welt auf die ein oder andere Weise betroffen ist, wollen Politiker naturgemäß ihre eigene Bevölkerung schützen“, meint Simon Missiri, Afrika-Vertreter der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften. 

Wer erhält Zugang zu lebensrettenden Apparaten? Wie wird sichergestellt, dass eine Schutzimpfung künftig auch die Ärmsten erreicht? Und wie ist zu verhindern, dass Entwicklungsländer den Launen westlicher Regierungen und Pharmakonzerne unterworfen sind? Diese Fragen beschäftigen die Verantwortlichen der WHO genauso wie Afrikas Regierungen. 

Kardinal Philippe Ouédraogo aus Burkina Faso hat seine Covid-19-Erkrankung überstanden. Für ihn ist nach seiner Genesung klar: „Es braucht Solidarität auf lokaler, regionaler und globaler Ebene“.

Markus Schönherr

29.04.2020 - Afrika , Corona , Gesundheit