Chancen, aber auch Risiken

„Ein gefährlicher Abgrund“

Der Beginn der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts im September 1990 markiert eine Sternstunde der Wissenschaft. Forscher hoffen, mit den gewonnenen Erkenntnissen eine Reihe von Krankheiten bekämpfen zu können. Aus ethischer Sicht birgt dieses Wissen aber auch einige Gefahren, warnt der Augsburger Weih­bischof und Ethikexperte Anton Losinger im Exklusiv-Interview.

Herr Weihbischof, wie bahnbrechend war der Beginn der Erbgut-Entschlüsselung im September 1990?

Man muss etwas weiter ausholen. Als Francis Crick und James Watson im Jahr 1953 die Doppelhelix – und damit die Grundstruktur des Erbguts lebender Organismen – entdeckten, war eines der größten Geheimnisse der modernen Wissenschaftsgeschichte gelüftet. Dafür gab es zu Recht den Nobelpreis. 

Das renommierte Wissenschaftsmagazin „Nature“ bezeichnete die Arbeit von Crick und Watson als das größte Ereignis der Biologie seit Darwins Evolu­tionstheorie. In einer kleinen Skizze von gerade 900 Wörtern hatten die beiden Forscher dem Molekül des Lebens Gestalt gegeben: der genetischen Substanz, die jedem Organismus, von der Pflanze bis zum Tier, innewohnt und seine Erbinformation speichert. 

Die zweite Stufe der „lebenswissenschaftlichen Rakete“ wurde vom US-Amerikaner John Craig Venter gezündet (siehe Seite 3). Seinem Unternehmen gelang das Humangenomprojekt, das ehrgeizige Ziel der Aufschlüsselung des menschlichen Genoms. Damit eröffnete er ein weites Feld praktischer biologischer, gentechnischer und medizinischer Anwendungen. Gentechnik-Unternehmen schossen seither wie Pilze aus dem Boden.

Wie ging es dann weiter?

Eine dritte „Raketenstufe“ in der Eroberung des biogenetischen Weltalls hängt mit dem etwas kryptischen Begriff „CRISPR/Cas“ zusammen. Es sind die nobelpreisverdächtigen Forschungen um die sogenannte Genschere, mit der in bisher nicht gekannter Präzision gezielt und geplant Genveränderungen durchgeführt werden können. Mit der Entdeckung der genetischen Struktur und Funktionsweise der Erbinformation lebender Organismen wurde somit der Grundstein für den kometenhaften Aufstieg der Lebenswissenschaften, speziell der Zellforschung und Gentechnik, gelegt. 

Welche medizinischen Bereiche entwickelten sich auf der Grundlage der neuen Erkenntnisse?

Die Reproduktionsmedizin, speziell die In-vitro-Fertilisation (IVF), also künstliche Befruchtung. Aber auch die Präimplantationsdiagnostik (PID), die embryonale und adulte Stammzellforschung sowie medizinisches und reproduktives Klonen. 

Ein erklärtes Forschungsziel ist die genetische Optimierung lebender Organismen. Diese Forschung ist einerseits verbunden mit ungeheuren Versprechungen an biologischen, medizinischen und gentechnischen Entwicklungsmöglichkeiten und Heilverfahren. Der „perfekte Mensch“ tritt als Wunschvorstellung auf die Bühne der Biomedizin.

Das klingt, als arbeite der Mensch darauf hin, die bislang gegebenen Grenzen der Medizin weit zu überschreiten ... 

Der dramatische Fortschritt ist zugleich ein gefährlicher Abgrund. Im Kontext der rasanten Entwicklung der Lebenswissenschaften geht es um nicht weniger als die grundlegenden Fragen von Lebensrecht und Menschenwürde.

Wie gehen wir damit um, dass die Möglichkeiten genetischer Analyse und Therapie die Optimierung des Menschen erlauben, aber gleichzeitig auch Selektion und Zerstörung des Menschen mit Gendefekten ermöglichen? Der „perfekte Mensch“ steht so auf einmal neben dem gentechnisch bedrohten Menschen.

Wer bereit ist, PID und damit umfassende genetische Untersuchungsmethoden am Lebensanfang zu befürworten, an deren Ende mit geradezu zwingender Logik die Verwerfung des gendefekten Lebens steht, der muss sich auch darüber klar werden, welches Bild des Menschen mit Behinderung dadurch vermittelt wird. 

Die Statistiken bestätigen, dass derzeit über 90 Prozent der Eltern nach der genetischen Diagnose Trisomie 21/Down-Syndrom einen Schwangerschaftsabbruch einer Geburt vorziehen. Wenn die flächendeckende Kassenfinanzierung des sogenannten Pränatests eine „genetische Rasterfahndung“ nach Trisomie 21 erlaubt, wird Behinderung – wie es der kürzlich verstorbene Professor Eberhard Schockenhoff in der Debatte des Deutschen Ethikrats zuspitzte – über kurz oder lang zu einem annähernd sicheren tödlichen Kriterium.  

Wie passt diese wissenschaftliche Entwicklung zu gesellschaftlichen Bestrebungen nach mehr Teilhabe für Menschen mit Behinderung?

Im Zeitalter einer breiten gesellschaftlichen Inklusionsdebatte liegt darin ein tiefer Widerspruch. Einerseits fordern wir im Sinne der Inklusion, dass Menschen mit Handicap in die Mitte der Gesellschaft müssen – ein klares Bekenntnis der UN-Behindertenrechtskonvention. Andererseits aber befürworten wir genetische Verfahren, in deren Anwendung dieses Leben keine Chance hat.

Es wäre höchste Zeit, im Blick auf allerneueste Entwicklungen im Bereich der Biotechnik, der Potenziale der digitalen genetischen Diagnostik, mit der in nicht allzu ferner Zukunft therapeutisches und reproduktives Klonen möglich werden könnte, sowie der Etablierung der Genschere eine neue Debatte darüber zu eröffnen. Schließlich geht es um die Würde und das Lebensrecht des Menschen – in allen Phasen seines Lebens.

Wie steht die Deutsche Bischofskonferenz zu diesem Thema?

Im Jahr 2001 veröffentlichten die Bischöfe ein Dokument mit geradezu prophetischem Charakter: „Der Mensch, sein eigener Schöpfer? Zu Fragen von Gentechnik und Biomedizin.“ 

Die Bischöfe beginnen darin mit einer sehr nüchternen Situationsanalyse: „Wir rechnen damit, dass die Möglichkeiten der Lebenswissenschaften an den Grundwerten unserer Gesellschaft rütteln. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie die durch die Lebenswissenschaften eröffneten neuen Möglichkeiten zum ganzheitlichen Wohl des Menschen genutzt werden können und wie ihr Missbrauch wirksam verhindert werden kann.“ Ebenso steht darin: „Wir warnen davor zu glauben, diese Fragen mit Hilfe von Mehrheitsentscheidungen klären zu können. Menschenwürde ist nicht disponibel, sie liegt der staatlichen Gewalt voraus und bindet sie.“ 

Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch an den Würdebegriff unseres Grundgesetzes: Der Wert menschlichen Lebens, von seinem Anfang bis zu seinem Ende, gehört zu jenen Vorgegebenheiten, über die nicht demokratisch abgestimmt werden kann. 

Wie kann man verhindern, dass das Machbare die Oberhand über die Würde erlangt?

Die erste Empfehlung ist eine Forderung an die Ökonomie. Das Stichwort Kommerzialisierung vieler Lebensbereiche ist omnipräsent, wenn die Bischöfe schreiben: „Es muss deutlich werden, dass ökonomische Gründe nicht hinreichen, um bestimmter ethisch nicht vertretbarer Forschung oder ethisch problematischen Verfahren zum Durchbruch zu verhelfen. Hinter mancher gentechnischen Forschung und Entwicklung verbergen sich zuweilen massive wirtschaftliche Interessen, die zu einer industriellen Nutzung des Menschen führen können.“ 

Die zweite Empfehlung richtet sich an die Wissenschaft: „An die Forscher in diesem Bereich ergeht der Appell, dass sie den Menschen dienliche Perspektiven nicht aus den Augen verlieren. Zur Verantwortung des Forschers gehört es, dass er die Chancen und Risiken seines Forschungsgegenstands verantwortungsbewusst überprüft, einer sorgsamen Folgenabschätzung unterzieht und über sein Tun gewissenhaft Rechenschaft gibt.“ Rechenschaft der Wissenschaft also vor dem Gesetz und auch vor der Allgemeinheit, für die sie letztlich arbeitet und forscht, und stets eine sorgsame Technikfolgenabschätzung. 

Schließlich geht eine dritte Empfehlung an die Politik: „Das Parlament ist gefordert, durch entsprechende Gesetze der Komplexität, den Risikodimensionen, den Zukunftswirkungen und den ethischen Implikationen, nicht nur der Gentechnik, sondern insgesamt, der digitalisierten Welt der Zukunft gerecht zu werden.“

Was wäre, wenn man der Forschung einfach ihren Lauf ließe und alles erlauben würde, was machbar ist?

Dazu fällt mir einer meiner persönlichen Leitsätze ein. Wir verdanken ihn dem hochdekorierten Physiker, Nobelpreisträger und Entdecker der Relativitätstheorie, Albert Einstein. Er prägte um die Mitte des zurückliegenden 20. Jahrhunderts im Blick auf die Nutzung der Kernenergie dieses Wort: „Der Mensch lebt heute technisch im Atomzeitalter, aber ethisch in der Steinzeit.“ Hier wird geradezu visionär deutlich, was die Frage bedeutet: Dürfen wir alles, was wir können? Wo die Kluft zwischen dem, was wir wissenschaftlich-technisch können, aber ethisch nicht verantworten, eine unbeherrschbare Dimension erlangt, wird es für die Menschheit wirklich gefährlich.

Interview: Victoria Fels

11.09.2020 - Bischöfe , Ethik , Wissenschaft