Erneut Krieg im Gaza-Streifen?

Gefängnis unter freiem Himmel

GAZA – Beobachter sprechen von den schwersten Angriffen Israels auf den Gaza-Streifen seit vier Jahren. Die Regierung um Benjamin Netanjahu will angesichts palästinensischen Raketen- und Mörserbeschusses Härte zeigen. Den Waffenstillstandsbeteuerungen der radikalislamischen Hamas traut man nicht. Die jüngste Eskalation hatte sich seit Monaten angekündigt.

„Die gemeinsame Fürsprache-Ini­tiative lädt Sie in dieser Osterzeit ein, nicht nur auf der Via Dolorosa mit uns zu gehen, sondern, verankert im Licht der Gerechtigkeit, unserer Freiheit entgegenzugehen.“  Diesen Appell richtete der emeritierte lateinische Patriarch Michel Sabbah, von 1987 bis 2008 höchster römisch-katholischer Repräsentant im Heiligen Land, kurz vor Palmsonntag im „Easter-Alert“ (auf Deutsch: Oster-Alarm) an seine Glaubensgeschwister in der ganzen Welt. 

Von einem „Leben unter 51 Jahren militärischer Besatzung“ war in diesem Appell die Rede, von „70-jährigem Siedlerkolonialismus“ und der „seit elf Jahren bestehenden Blockade des Gaza-Streifens“. Eine Woche später begannen Tausende Menschen aus Gaza ihren Marsch der Rückkehr an den Grenzzaun, der den Gaza-Streifen von Israel trennt. Es war an einem Freitag – für die Christen der Karfreitag. 

Bis zum Nakba-Tag Mitte Mai, dachten Kenner der Lage, würde der Protest andauern. Nakba, das arabische Wort für „Katastrophe“, bedeutet für die Palästinenser die Staatsgründung Israels, die Niederlage im ersten Israelisch-arabischen Krieg. 

Freitag für Freitag machten sich Tausende Palästinenser zu den fünf Zeltstädten in Zaunnähe auf. Mitunter waren es bis zu 30 000, die gegen die israelische Besatzung und für ein Rückkehrrecht vertriebener Palästinenser protestierten. Während die meisten friedlich demons­trierten, versuchten einige, den Zaun zu durchbrechen. Andere warfen Steine oder Molotow-Cocktails, zündeten Autoreifen an oder ließen brennende Flugdrachen in Richtung Israel steigen, die über 700 Brände verursachten. 

Der Bericht der UN-Agentur zur Koordination humanitärer Angelegenheiten (OCHA) vom 8. Juni dokumentiert die blutige Bilanz der Proteste: 131 tote Palästinenser, darunter 15 Kinder. OCHA erklärte dazu: „Dass es so viele Tote unter unbewaffneten palästinensischen Demonstranten gab, darunter viele, die von scharfer Munition getroffen wurden, lässt übermäßige Gewaltanwendung seitens israelischer Truppen vermuten.“

Die Leidensliste im Gazastreifen ist lang: vier Kriege seit 2006, Reiseeinschränkungen durch Israel seit den 1990er Jahren, die Zerstörung des einzigen palästinensischen Flughafens, den Deutschland mit 7,5 Millionen Euro mitfinanziert hatte durch israelische Bombardierung 2001, ferner seit elf Jahren die israelische Blockade mit Begrenzung von Export und Import. 

Weder Wasser noch Strom

90 Prozent der 1,9 Millionen Einwohner Gazas haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 40 Prozent. Seit elf Jahren leben die Menschen mit zeitweise nur vier Stunden Strom pro Tag. 108 000 Kubikmeter Abwasser fließen täglich ungefiltert ins Mittelmeer, 80 Prozent der Bevölkerung sind auf Lebensmittelspenden von Hilfsorganisationen angewiesen.

„Es fehlt am nötigsten”, hat der palästinensische Journalist Ahmed Abu Artema, der Organisator des Rückkehrmarschs, betont: „Die Wirtschaft liegt brach, die gesundheitliche Lage ist schlecht.“ Menschen sterben deswegen. Es gebe weder Arbeit noch Zukunft oder Hoffnung. „Wir können uns hier kein Leben aufbauen, aber weggehen können wir auch nicht. Es ist ein Gefängnis unter freiem Himmel.“ Den Protest, den er initiiert hat, sieht er als „friedlichen Massenprotest“, bei dem seine Landsleute „an den Gittern unseres Gefängnisses“ gerüttelt hätten.

Weiterer Krieg?

In israelischen Medien ist derweil von einem weiteren Gaza-Krieg die Rede. Als Mitte des Monats über 200 Raketen und Mörsergranaten aus dem Gaza-Streifen nach Israel geschossen wurden, bombardierte die israelische Luftwaffe Dutzende von militärischen Zielen, aber auch Plätze wie den Park der Armen. Dabei starben zwei 14-jährige Kinder. Die Hamas ziehe Israel in einen weiteren, vielleicht noch schlimmeren Krieg hinein als den von 2014, warnte der israelische Verteidigungsminister Avigdor Lieberman.  

Abed Shokry, Professor für Ingenieurwissenschaften in Gaza, fordert in einem Brief voller Verzweiflung seine deutschen Freunde, Bekannten und ehemaligen Mitstudenten auf, dem Bundesaußenminister und der Kanzlerin zu schreiben: „Sollte dieser Krieg stattfinden, so werden wir ihn mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht überleben.“ 

Johannes Zang

25.07.2018 - Minderheiten , Nahost , Terror