Südsudan Zehn Jahre nach der Unabhängigkeit

Keine Ernte am Nil

Der Südsudan gilt heute als „gescheiterter Staat“. Nach der vor zehn Jahren, im Juli 2011, erlangten Unabhängigkeit vom islamistischen Norden führten die Volksstämme fünf Jahre lang Bürgerkrieg. Auch nach dem Friedensschluss kommt das Land nicht zur Ruhe, erzählt Pater Gregor Schmidt. Der Comboni-­Missionar aus Deutschland betreut als Seelsorger den Stamm der Nuer im Schwemmgebiet des Nils. Er berichtet über Land, Leute und – Lieder, ein Kern­element seiner Seelsorge.

Pater Gregor, nachdem der Bürgerkrieg seit Herbst 2018 offiziell zu Ende ist: Wie stabil ist derzeit der Frieden im Südsudan?

Ich würde so sagen: Der Patient hat immer ein bisschen Fieber. Mal ist es eine etwas höhere Temperatur, mal eine etwas niedrigere. Das Land ist nicht wirklich zum Frieden gekommen. Es ist nur eine Art Atempause. Die Übergangsregierung hätte stabile politische Verhältnisse herbeiführen können. Aber nach dem, was Beobachter sagen, waren die vergangenen zweieinhalb Jahre vertane Zeit. Die Machthaber haben politisch zu wenig vorangebracht, um dem Land durch die Administration Stabilität zu geben oder Wahlen vorzubereiten. Deswegen kann die momentane Pause auch wieder in einen offenen Bürgerkrieg münden.

Zwar herrscht zwischen Dinka und Nuer, den beiden Hauptparteien des Bürgerkriegs, relative Ruhe. Das liegt vor allem am enormen Druck der internationalen Gemeinschaft und der Nachbarländer. 

Für das Jahr 2020 jedoch berichtet Yasmin Sooka, die Vorsitzende der UN-Kommission für Menschenrechte im Südsudan, dass die Gewalt im Land erheblich zugenommen hat. Ob das aber dem Bürgerkrieg zugerechnet werden muss oder der durch Gesetzlosigkeit gewachsenen Bandenkriminalität, ist nicht klar. 

Tragen finanzielle Hilfen aus dem Ausland zu einer Verbesserung der Lage bei?

Die internationale Gemeinschaft pumpt Hunderte Millionen von Dollars in den Südsudan. Das ist aber wie ein „Betäubungsmittel“ für die politische Elite. Sie ist korrupt und wird praktisch mit internationalen Geldern „gefüttert“, die sie für sich abzweigt. Sichtbar wird das in der Hauptstadt Juba, wo es viele Auto­händler gibt, die Luxusautos und SUVs an bestimmte Leute verkaufen, die sich bereichert haben.

Für die internationale Gemeinschaft, die diesen Friedensprozess begleiten möchte, ist das ein totales Fiasko. Denn der Regierung wird nicht geholfen, selbstständig das Land zu führen. Sie benimmt sich, als sei sie im Schla­raffenland. Wenn dann mal die internationale Gemeinschaft den Geldhahn zudrehen würde, könnte das wieder im Bürgerkrieg enden. Weil die Leute merken, dass es nichts mehr zu verteilen gibt. 

Wenn eine ausländische Organisation im Land tätig sein will, muss sie den Dollar bei der Zentralbank gegen lokale Währung umtauschen. Sie bekommt diese für einen schlechten Umtauschkurs von teilweise nur einem Viertel des ursprünglichen Wertes. Bis zu drei Viertel von jedem Dollar, der ins Land kommt, schöpft die politische Elite ab, bevor das Geld im Land überhaupt für Projekte verwendet werden kann. 

Zum Beispiel hat die Europäische Union ein Programm gestartet, mit dem Lehrergehälter bezahlt werden sollen: Jeder Grundschullehrer im Land soll von der EU pro Monat für seine Arbeit 40 Dollar bekommen. Das ist zwar wenig, aber es wäre gar nicht so schlecht. Doch die Geldgeber dürfen das nicht in Dollar auszahlen. Sondern sie müssen das Geld bei der Zentralbank umtauschen. Der Lehrer bekommt dann, wenn für ihn überhaupt etwas bleibt, umgerechnet etwa zwölf Dollar.

So verstärken Hilfsgeld-Aktionen nur die Passivität und die Korruption. Der Jahresbericht von Transparency International nennt für 2020 den Südsudan das korrupteste Land der Welt – neben Somalia.

Der Südsudan ist nicht von Corona verschont geblieben. Welche Auswirkungen hatte die Pandemie bisher? 

Ich lebe sehr entlegen im Sumpfgebiet des Nil, 600 Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Da wird nicht getestet, da werden keine Schutzmaßnahmen vorgegeben. Wir leben so wie immer. Das Virus, für die Menschen eine unsichtbare Krankheit, ist nicht aufgefallen, weil ein Großteil der Landbevölkerung keinen Zugang zu medizinischer Versorgung hat. 

Man muss sich das so vorstellen wie vor Einführung der modernen Medizin in Europa im 19. Jahrhundert. Da ist die hohe Sterberate unter anderem bedingt durch ganz gewöhnliche Krankheiten: Impfungen, zum Beispiel für Tetanus oder Polio, gibt es kaum. Viele Leute sterben jung. 

Die Altersgruppe derjenigen, von denen anderswo viele an Corona sterben, also die über 60- oder 70-Jährigen, gibt es bei uns fast nicht. Das Durchschnittsalter liegt bei 15 Jahren, die durchschnittliche Lebenserwartung bei 56 Jahren. Was man in Deutschland die Risikogruppe nennt, existiert im Südsudan – zumindest auf dem Land – nicht. Von daher ist Corona in dieser Region kein Thema. 

Ein bisschen anders ist es in der Hauptstadt, weil da die Adminis­tration ja auch ein wenig Kontrolle über das Stadtleben hat. Da wird geringfügig getestet. Seit Beginn der Corona-Krise hat man im Südsudan etwa 10 000 Personen positiv getestet. Davon sind 117 gestorben, also etwa ein Prozent der positiv Getesteten. Die tatsächlichen Infektions- und Todeszahlen werden höher sein. Es ist aber wenig Genaues über den Verlauf der Infektionen bekannt. Insgesamt gibt es für die Südsudanesen Probleme, die weitaus belastender sind als die Pandemie.

Berichte über die Not im Südsudan gehen von 8,3 Millionen Menschen aus, die in diesem Jahr auf humanitäre Hilfe angewiesen sind: rund zwei Drittel der Bevölkerung. Das ist ein Höchststand seit der Unabhängigkeit. Nehmen der Hunger, das Leid der Menschen zu?

In der Region des Nil, in der ich lebe, hat der Fluss seit Mitte 2020 Hochwasser, weil in Uganda riesige Wassermengen aus dem Viktoria-See abgelassen worden sind. (Anm. d. Red.: Nach sintflutartigen Regenfällen und Überschwemmungen in Ostafrika stieg der Wasserstand des Sees zuvor auf ein Rekordhoch.) Hochwasser haben wir sonst jedes Jahr. Aber dieses Jahr ist es noch einen Meter höher. Und das bedeutet, dass die meisten Dörfer überschwemmt werden. Es sei denn, man baut Deiche. 

Es gibt viele Geisterdörfer, die verlassen wurden. Dort, wo die Menschen bleiben, müssen sie einen Ring um ihren Hof bauen, um sich zu schützen. Sie leben dann in einem riesigen See, weil die ganze Umgebung überschwemmt ist. Oder eine Dorfgemeinschaft muss ihr ganzes Gebiet umfrieden. Da müssen dann alle mit anpacken.

Ich war im Dezember, wenn normalerweise die Trockenzeit beginnt, auf einer Reise zu den Kapellen. Früher bin ich gewandert, nun aber, weil die Wege alle überflutet sind, mit dem Kanu gefahren. Ich habe bei einer Familie übernachtet und miterlebt, dass der Deich über Nacht brach. Wir mussten mit Eimern mehrere tausend Liter Wasser schöpfen, um das Grundstück zu retten.

In der ganzen Region wurde letztes Jahr nicht geerntet, weil das Flusswasser die Ernte zerstört hat. Dieses Jahr kann nicht gesät werden, weil der Wasserstand nur wenig gesunken ist. Dadurch haben wir das zweite Jahr in Folge einen Ernte­ausfall. Von daher ist es sehr ernst. 

Das heißt, die Menschen sind auf Hilfslieferungen angewiesen?

Naja, es kommen schon Hilfslieferungen. Die gab es auch schon vor dem Hochwasser, die ganzen Jahre des Bürgerkriegs. Aber das Welt­ernährungsprogramm WFP ist unterfinanziert. Es heißt, die Geberländer hätten nur rund 60 Prozent der Mittel bereitgestellt, die sie versprochen haben. Natürlich zögert die internationale Gemeinschaft auch, weil sie ganz genau weiß, wie korrupt die Elite ist. Dass die Bereitschaft zu helfen eher mäßig ist, weiß ich auch von den Botschaftern von Deutschland und den USA. 

Aber in unserer Region wissen die Leute trotz des Hochwassers, wie man sich ernährt, wenn es kein Getreide gibt – also vor allem die Grundnahrungsmittel Hirse und Mais. Durch das Hochwasser gibt es mehr Fische. Und die Leute kennen Wasserpflanzen, deren Wurzeln essbar sind. Die Völker leben dort ja seit Jahrhunderten und haben überlebt, auch schon bevor es die UNO gab.

Vor wenigen Monaten wurde ein Anschlag auf den designierten Bischof von Rumbek, eine südsudanesische Diözese, verübt. Gibt es Hoffnung, dass die Hintergründe aufgeklärt werden können?

Ja, diese Hoffnung haben wir. Wir müssen abwarten, bis die Untersuchung offiziell abgeschlossen ist. Aber im Prinzip weiß man, dass das eine kircheninterne Sache ist. Es gibt dort Priester, die nicht wollen, dass in ihrer Diözese ein ausländischer Bischof etwas ändert. Da geht es um Strukturen, die sich in den zehn Jahren ausgebildet haben, seitdem der alte Bischof gestorben ist.

In vielen Ländern Afrikas wächst die Bedrohung durch Islamisten. Gibt es diese Entwicklung auch im Südsudan?

Soweit ich weiß, nicht. Ich vermute, das liegt daran, dass die Hirtenvölker alle bewaffnet sind. Da ist jeder Mann gleichzeitig auch ein Kämpfer. Denn 80 Prozent der südsudanesischen Bevölkerung sind Hirtenvölker – und die sind traditionell alle Krieger. Das fürchten die Islamisten wohl. Sie breiten sich dort aus, wo die Bevölkerung sesshaft und friedfertiger ist. Aber im Südsudan würden Islamisten auf Gegenwehr stoßen, und davor, glaube ich, haben sie Respekt. 

Nach 50 Jahren Kampf für die Unabhängigkeit vom islamischen Norden des Sudan haben die Südsudanesen vom Islam sowieso erstmal genug. In dieser Zeit wurden die Schwarzen von der arabischen Mehrheit als Menschen zweiter Klasse misshandelt. Die Scharia wurde ihnen aufgezwängt. Einige Christen wurden getötet, manche von ihnen gekreuzigt. Das wollen die Südsudanesen nicht mehr. 

Sie arbeiten als Pfarrer bei den Nuer. Erzählen Sie uns, wie Sie dort den Glauben verkündigen.

Glaubensverkündigung geschieht im Wesentlichen durch persönliche Beziehungen, durch Freundschaften. Wir sind nur zwei Priester, um 80 Kapellen in unserem Pfarreigebiet abzudecken, welches achtmal so groß ist wie Berlin. Da kommen wir vielleicht nur ein- oder zweimal im Jahr in eine Ortschaft und bleiben dann drei oder vier Tage dort. Wir machen alles zu Fuß. Straßen gibt es keine. 

„Kapellen“ heißt nicht unbedingt, dass es dort immer ein Kirchengebäude gibt, sondern dass sich Katholiken sonntags zum Gebet treffen, meistens unter einem Baum. Das sind die lebendigen Zellen, kleine christliche Gemeinschaften, die den Glauben attraktiv machen, auch für die Umgebung und die Nichtchristen. 

Wir Missionare werden in die Kapellen in der Region eingeladen und feiern dort Sakramente, Gottesdienste. Außerdem bieten wir mehrmals im Jahr Fortbildungen für Katecheten, für Jugendleiter oder für Frauen an. Diese kommen dann zu den Kursen zu uns ins Pfarrzentrum. Das ist unsere Hauptarbeit. 

Nichtchristen haben in der Regel einen Erstkontakt mit Familienmitgliedern, die katholisch geworden sind. Dadurch interessieren sie sich auch für den Glauben, weil sie merken, dass das eine andere Form von Gemeinschaft ist – im Vergleich zum sonst eher gewalttätigen Lebensstil.

Dann gibt es noch die Glaubensvorbereitung durch die Katecheten. Wir Missionare kommen dann, wenn die erwachsenen Taufkandidaten vorbereitet sind, und taufen in den Dörfern.

Der Glaube wird außerdem viel durch das Singen verbreitet. Denn die Katholiken bei den Nuer sind sehr aktiv im Komponieren von Liedern. Sie denken sich christliche Texte aus oder benutzen Bibeltexte als Vorlage. Solche Lieder werden dann beim Wandern gesungen oder bei der Arbeit auf dem Feld. Dadurch wird die christliche Botschaft weitergegeben: Auf diese Weise hören auch die Nichtchristen von Jesus.

Einmal war ich in einem Dorf eingeladen, in dem nur eine Frau getauft war. Sie baten mich, eine katholische Messe zu feiern. Die Leute konnten alle Lieder der Liturgie auswendig – vom Eingangslied bis zum Schlusslied einschließlich Gloria, Glaubensbekenntnis, Gabenbereitung, Vater Unser. Diese Lieder sind in der Region einfach bekannt. 

Wie bewährt sich der Glaube im Leben der Menschen? Ist das dann mehr als ein Lippenbekenntnis?

Im Vergleich zu Deutschland, wo ja die katholische Kirchenlandschaft an vielen Stellen sehr säkularisiert ist, erlebe ich dort den Glauben der Menschen als viel intensiver. Grundsätzlich wird der Glaube dort viel bewusster gelebt. Das hat auch Folgen für die Lebensweise, wie etwa bei den Rachemorden. 

Da gibt es Väter, die ihren Sohn verloren haben und bei der Beerdigung sagen, dass sie nicht wollen, dass der Tod ihres Sohnes gerächt wird. Denn nach der Sitte muss der Tod eines Familienangehörigen gerächt werden, aber nicht, indem man den Mörder bestraft, sondern indem man irgendeinen Repräsentanten der anderen Gruppe tötet – die Frauen sind sicher, es geht immer nur um Männer. In solchen Fällen kommt es unter den Katholiken vor, dass jemand sagt: „Nein, das hört hier auf. Mein Sohn ist zwar tot, aber ich möchte nicht, dass das Töten weitergeht.“ Das sind sehr eindrucksvolle Erlebnisse.

Sie engagieren sich auch in der Bildungsarbeit. Gibt es in diesem Bereich Fortschritte?

Ja. Wir haben 2014 angefangen und ein Zentrum eingerichtet, in dem Schüler aus den umliegenden Schulen ihr Grundschul-Examen machen können. Und wir sind jetzt mit den Armen Schulschwestern von Unserer Lieben Frau dabei, eine vollständige Schule aufzubauen. In unserer Pfarrei haben eine deutsche und eine polnische Schwester eine Niederlassung ihrer Gemeinschaft eröffnet. Unsere gemeinsame Vision ist es, innerhalb der nächsten Jahre eine katholische Diözesanschule von der ersten bis zur zwölften Klasse aufzubauen, die einen Grundschul- und einen Oberschulabschluss anbietet. Ich bin sehr froh, wie sich das entwickelt hat. 

Die Fangak Region, wo sich unsere Pfarrei befindet, ist sehr unterentwickelt. Während die Analphabeten-Quote im Südsudan bei etwa 75 Prozent liegt, sind es bei uns sogar über 95 Prozent. Weniger als 1 Prozent der Bevölkerung in Fangak hat einen Grundschulabschluss.

Gibt es ein Projekt, an dem Sie in nächster Zeit arbeiten?

Wir bieten zum Beispiel mit einem Verein aus Baden, Tukolere Wamu, einen Schneiderkurs an. Und mit Caritas Deutschland aus Freiburg betreuen wir Landwirtschaftsprojekte. Für die Schule müssen wir zwei Klassenräume und auch ein Büro für die Schwestern sowie das Lehrerzimmer bauen. Da stehen mehrere Bauprojekte an.

Wie kann Ihre Arbeit von Deutschland aus unterstützt werden?

Vor allem durch das Gebet. Und ich würde dazu raten, auch hier aufmerksam zu leben: Wer sind denn eigentlich die Menschen, die das Evangelium hören sollten? Und in Bezug auf Afrika kann man sich fragen: Kenne ich überhaupt Afrikaner oder Menschen mit afrikanischem Migrationshintergrund? Da einmal bewusst Kontakt zu knüpfen und nicht einfach nur zu sagen, das sind Fremde, das wäre mein Vorschlag.

Interview: Ulrich Schwab

Hinweis: Mehr zu den Comboni-Missionaren erfahren Sie unter https://comboni.de/missionare/p-gregor-schmidt.

09.07.2021 - Afrika , Interview , Politik