Korrespondent kennt Kriegsland

"Hinschauen, beten und helfen"

Der aus der Schweiz stammende promovierte Historiker und Journalist Mario Galgano arbeitet seit mehreren Jahren als Korrespondent der Katholischen SonntagsZeitung und der Neuen Bildpost: Er ist Vatikan-Experte und hat für uns auch schon Papst Franziskus interviewt. Durch die Heirat mit seiner aus der Ukraine stammenden Frau Nataliya Karfut – die beiden haben zwei Töchter – kennt Galgano sehr gut die Verhältnisse und Hintergründe in der jetzt vom Krieg heimgesuchten Ukraine.

Herr Galgano, die Welt hält den Atem an ob des Krieges im Heimatland Ihrer Frau. Wie empfindet Ihre Familie die schlimme Situation?

Die meisten Verwandten meiner Frau leben und sind noch in der Ukraine. Sie sind oder waren im ganzen Land verteilt. Die Ukraine ist ja flächenmäßig – abgesehen von Russland – das größte Land Europas und etwa eineinhalb Mal so groß wie Frankreich. Und was ich aus eigener Erfahrung gut weiß: Es liegt so nahe an unseren bekannten westeuropäischen Metropolen! München, Augsburg oder Regensburg sind eigentlich nicht weit von der ukrainischen Grenze entfernt. Wir sind bisher jedes Jahr von Rom aus in die Ukraine mit dem Auto hin- und zurückgefahren.

Haben Sie Kontakt mit den Verwandten in der Ukraine? Was fühlen diese, wie geht es ihnen?

Es ist eine „komische“ Situation: Ich kann es mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass die Ortschaften, die ich jedes Jahr besuche, derzeit durch Bombenhagel zerstört werden. Da die Verwandten in der Ukraine verteilt leben, haben wir versucht, mit ihnen über das Internet Kontakt aufzunehmen. Das ging bisher relativ gut. Die Cousine, ihr Mann und deren Tochter, die aus Mariupol im Donbass geflüchtet sind, wohnen derzeit in der Westukraine in der Nähe meiner Schwiegermutter. Sie haben drei Tage gebraucht, um mit dem Auto etwa 1500 Kilometer zu fahren. Die Tochter ist gehbehindert und wohnt jetzt in einer Notunterkunft ohne Heizung und behindertengerechten Einrichtungen.

Wie kam es, dass Sie als Schweizer das Herz für die Ukraine entdeckt haben?

Meine Frau war vor 16 Jahren ein „Versuchskaninchen“ der Katholischen Universität in Lemberg, wo sie Theologie studierte. Der Rektor bot an, die Universität Fribourg in der Westschweiz zu besuchen. Dort lernten wir uns kennen, da ich in Fribourg als Pressesprecher der Schweizer Bischofskonferenz arbeitete.

Wladimir Putin hat vor dem Einmarsch seiner Truppen nicht nur die Souveränität der Ukraine in Frage gestellt, sondern auch behauptet, das Land müsse befriedet und „entnazifiziert“ werden. Was können Sie dazu sagen?

Dass dies völliger Blödsinn ist. Jeder Deutsche weiß doch, was und wer die Nazis sind. Ein Nationalsozialist ist vor allen Dingen ein Antisemit. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist ein Jude! Bei den Wahlen haben die Rechtsextremen weniger als drei Prozent der Stimmen erhalten und sind im Parlament gar nicht vertreten. Und die Ukraine beherbergt in Charkiw die größte Synagoge Europas.

Der russische Angriff kommt nicht von ungefähr, sondern ist die Zuspitzung eines Konflikts zwischen Moskau und Kiew, der mit dem Sturz des pro-russischen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowytsch 2014 begann. Welche Fehler hat seither die Ukraine, hat der Westen gemacht, die Ihrer Meinung womöglich zur Eskalation beigetragen haben?

Das ist – und das sage ich als Historiker – eine Frage, die jetzt zu früh gestellt wird. Wir können erst am Ende dieser kriegerischen Entwicklung mit Ruhe und den entsprechenden Dokumenten aus den Archiven sagen, was da genau schiefgelaufen ist.

Wie könnte nach Ihrer Einschätzung eine Lösung des Konflikts aussehen?

Seien wir realistisch: Ein Krieg hat Gewinner und Verlierer, und vor allem gibt es Opfer. Wenn wir an diese drei Dimensionen denken, so müssen alle im Gleichgewicht stehen. Die Ukraine braucht Frieden, Anerkennung und Unterstützung. Russland braucht eine neue Orientierung, die sich auf dieselben Prinzipien stützt, die ich für die Ukraine genannt habe. Und die Opfer des Krieges brauchen Gerechtigkeit. Jemand ist ja für den Tod der Kinder, Frauen und Männer verantwortlich und zwar sowohl jene, die geschossen haben, als auch jene, die den Schießbefehl gegeben haben.

Was kann, soll der Westen tun – welche Reaktion und Haltung, auch bei jedem Einzelnen, scheint Ihnen angemessen?

Hinschauen, beten und helfen. Die Nachrichten aus der Ukraine sind hart, aber die Menschen dort wollen, dass wir wissen, dass es sie gibt. Wir Christen haben eine mächtige Waffe, und das ist das Gebet. Das bewirkt wirklich Wunder. Auch wer selbst nicht an Wunder glaubt, hat die Möglichkeit, mit kleinen und großen Gesten zu helfen. Kinder, Frauen und Männer aus oder in der Ukraine sind froh und dankbar für jede Unterstützung, sei es materiell als auch finanziell.

Interview: Thorsten Fels und Johannes Müller

01.03.2022 - Interview , Krieg , Politik