Vor 25 Jahren

Mordopfer Nelly wäre heute 36

Christina Nytsch wurde nur elf Jahre alt: Am 16. März 1998, vor 25 Jahren, fiel „Nelly“, wie sie von ihren Freunden genannt wurde, in die Hände ihres Mörders. Die Tat beschäftigte ganz Deutschland. Ein DNA-Massentest überführte den Täter. Es war einer der ersten Kriminalfälle in der Geschichte der Bundes­republik, in dem diese neue Ermittlungsmethode angewandt wurde.

Der Ort der grausamen Tat: Strücklingen, ein kleines Dorf im Weser-Emsland. Auch Nellys Vater soll inzwischen verstorben sein, hört man hier. Vielleicht auch, weil er das gewaltsame Ende seiner Tochter nie verkraftet hat. Nellys bürgerlicher Name war Christina Nytsch, geboren 1986 in der damaligen DDR als einziges Kind ihrer Eltern, eines Busfahrers und einer Verkäuferin. 

Seelsorgerisch betreut wurden sie seinerzeit von Ulrich Bahlmann.Der katholische Priester aus dem Emsland tut sich bis heute schwer, über den Fall zu sprechen. „Nach Ihrem Anruf konnte ich nächtelang nicht ruhig schlafen“, ließ er wissen. Zu erreichen ist Bahlmann meist nur über das Handy, da er in den weit auseinanderliegenden Gemeinde­teilen nahe der Grenze zu den Niederlanden viel unterwegs sei. Gerade erreicht man ihn auf einer Kur, wohin er sich zurückgezogen hat. 

Zurück nach Brandenburg

Nach Christinas Ermordung am 16. März 1998 und der Verurteilung des Täters zu lebenslanger Haft gingen die Eltern zurück nach Brandenburg, von wo sie einst in den Westen aufgebrochen waren: auf der Suche nach Arbeit, schulischer
Perspektive für die Tochter und einer neuen Heimat. In den 1990er Jahren hielt der Exodus aus der ehemaligen DDR weiter an.

Auch Nellys Eltern gehörten zu den Exilanten. Im Westen sei zwar nicht alles golden, aber vieles besser, hatte man ihnen erzählt. Doch es kam anders. Brutal und unverhofft wurde ihnen von jetzt auf gleich das Liebste entrissen, als das Abendessen schon auf dem Tisch stand. Eine hölzerne Gedenkstätte erinnert heute am Radweg nach Strücklingen an das Verbrechen. 

Christina spielte in ihrer Gemeinde Flügelhorn und war bei Freunden und Lehrern beliebt. Nur manchmal sei sie nervig gewesen, wie das in ihrem Alter halt so ist, wird bis heute erzählt. Am 16. März 1998 war die Elfjährige auf dem Nachhauseweg vom Schwimmbad, als sie der Täter vom Fahrrad riss und in sein Auto zerrte. Auf einer Waldlichtung verging er sich an ihr und brachte sie um. Jäger fanden die Leiche mehrere Tage später.

Heute wäre Christina Nytsch 36 Jahre alt und hätte vielleicht eine eigene Familie gegründet. Einst war sie Ministrantin in der katholischen Pfarrei Sankt Marien in Friesoythe bei Cloppenburg im Nordwesten Niedersachsens. Sie wurde das Opfer von Ronny Rieken, einem sadistisch veranlagten Familienvater, Machtmenschen und mehrfach vorbestraften Gewalttäter. Nach außen hin führte er ein bürgerliches Leben – und nur ab und an ließ er seinen Gewaltfantasien freien Lauf. Wie an jenem 16. März 1998. 

Trostlose Kindheit

Rieken war gelernter Maschinenschlosser und hatte vor der Tat als Binnenschiffer gearbeitet. Dabei war es wiederholt zu tätlichen Übergriffen gekommen, bis er schließlich entlassen wurde. Rieken schien eine recht trostlose Kindheit verbracht zu haben: Sein Vater saß mehrere Jahre im Gefängnis, die Mutter traktierte den Sohn mit Gürteln und Kleiderbügeln, behauptete er später bei Vernehmungen. 1996 hatte er ganz in der Nähe schon einmal ein Mädchen missbraucht und ermordet.

Nach dem Verschwinden ihrer Tochter fanden Nellys Eltern bei Pfarrer Bahlmann seelsorgerische Zuwendung. Durch den Verlust des einzigen Kindes brach in ihnen eine Welt zusammen, in der sie sich sicher und angenommen gefühlt hatten. Obwohl sie nicht getauft waren, ließen die Katholiken aus Friesoythe ihre Tochter einfach mitmachen. Vorbehalte gab es keine.

Den Durchbruch bei den Ermittlungen in dem Mordfall brachte ein DNA-Massentest – damals eine völlig neue, kaum erprobte Technik. Bei dem Test gaben Männer aus dem Umkreis des Tatorts freiwillig Speichelproben ab. Auch Ronny Rieken. Sein misstrauisch gewordener Schwager hatte ihm nahegelegt, sich zu beteiligen. Rieken war der zweite Mörder, den in der Bundes­republik ein Gentest überführte.

Seit geraumer Zeit erhält Nellys Mörder Freigang, haben lokale Medien recherchiert. In Friesoythe sorge das für „blankes Entsetzen“, sagt Pastoralreferentin Hedwig Sänger. Zum Zeitpunkt des Verbrechens war sie noch nicht in Friesoythe tätig, nimmt aber für sich in Anspruch, „recht gut die Stimmung unter den Gläubigen“ einschätzen zu können. Eine vorzeitige Entlassung hatte das Landgericht Lüneburg 2021 abgelehnt. Die Richter hielten Rieken weiterhin für gefährlich. 

Benedikt Vallendar

15.03.2023 - Deutschland , Kriminalität