Unterricht im Flüchtlingscamp

Sehnsucht nach Syrien

DAMASKUS/BAALBEK – Wo vor dem Krieg Pilgerströme die engen Gassen füllten, sind heute weder Pilger noch Touristen zu sehen. Vor sieben Jahren hat die Syrienkrise begonnen. Sie hat vor allem den Norden des Landes schwer getroffen. Der Ostteil von Aleppo ist völlig zerstört, ebenso Homs. 13 Millionen Syrer sind auf der Flucht, die meisten innerhalb der Landesgrenzen. Viele sind aber auch in das Nachbarland Libanon geflohen, wo sie in Zeltstädten leben. Pfarrer Ulrich Lindl, Leiter der Hauptabteilung „Kirchliches Leben“ im Bistum Augsburg, hat sich kürzlich ein eigenes Bild von der Situation gemacht.

„Es ist kaum fassbar, wie gelassen und freundlich einem die Menschen auf den Straßen von Damaskus begegnen“, sagt Lindl, in dessen Hauptabteilung die Eine-Welt-Arbeit angesiedelt ist. „Offenbar haben sie gelernt, mit der Krise – die Syrer selbst sprechen nicht von Krieg – umzugehen.“ Anders könne man wohl kaum so lange im Ausnahmezustand leben.

Ein großes Aufatmen sei im Land zu spüren, seit der Islamische Staat (IS) vertrieben werden konnte – auch wenn andere islamistische Terrorgruppen noch immer da sind. Die Al-Nusra-Front habe ihre Stellung nur wenige Kilometer von der Pfarrei St. Kyrillos aufgebaut, wo Lindl in Damaskus zu Gast war. „Immer wieder hört man Detonationen und Granateneinschläge“, beschreibt er. Menschen werden getroffen, Häuser beschädigt. „Und doch wirken die Menschen ruhig. Es liegt eine hoffnungsvolle Ahnung in der Luft, das Schlimmste vielleicht überstanden zu haben.“ 

Dank für deutsche Hilfe

Immer wieder kommen Menschen auf ihn zu, um ihm stellvertretend für alle Deutschen zu danken, die in dieser Notzeit so beherzt geholfen haben. Die Syrer haben mit Flüchtlingen Erfahrung. Vor dem Krieg waren vor allem sie es, die Flüchtlinge aus dem Irak, dem Sudan und Afghanistan aufgenommen und nach Kräften unterstützt haben. 

Und jetzt? Sechs Millionen Syrer sind außer Landes, die meisten in Grenznähe, bei Verwandten oder in den Flüchtlingscamps im Libanon, in Jordanien und in der Türkei. In der libanesischen Bekaa-Ebene finden sich große Zeltstädte. Dank dem Jesuiten-Flüchtlingsdienst (JRS) werden die Flüchtlingskinder unterrichtet und bekommen wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag. Die Religion spielt dabei keine Rolle. Die meisten sind ohnehin muslimisch. Was zählt, ist Mitmenschlichkeit. Und die tut allen gut.

In der Nour-Schule begegnet Pfarrer Lindl der elfjährigen Asmaa. Vor zwei Jahren ist sie mit ihrer Familie aus Zabadani im Westen Syriens unweit der Grenze mit dem Bus in den Libanon geflohen und in Baalbek angekommen. Die Provinzhauptstadt in der Bekaa-Ebene hat eine 10 000 Jahre alte Siedlungsgeschichte. Zu ihren etwa 80 000 Einwohnern sind seit Ausbruch des Syrienkriegs zehntausende Flüchtlinge hinzugekommen. Die meisten von ihnen leben schon seit drei bis vier Jahren hier. Auch heute kommen noch Flüchtlinge über die Grenze, wenn auch viel weniger als noch vor einem Jahr.

Asmaa weiß, dass ihre Familie wegen des Kriegs aus Syrien geflohen ist. Die Angst scheint sie inzwischen verloren zu haben. Das aufgeschlossene Mädchen spricht erstaunlich gut Englisch, stellt Lindl fest. Das ist schließlich auch ihr Lieblingsfach. Ihre Lehrerin, Ola Bosso, sitzt neben ihr und freut sich sichtlich. Als der Pfarrer Asmaa nach ihrem Hobby fragt, antwortet sie: „Schreiben!“ Auf die überraschte Nachfrage erklärt Bosso: „Asmaa schreibt Gedichte.“

Ola Bosso unterrichtet 22 Flüchtlingskinder zwischen elf und 15 Jahren. Sie sind gut bei der Sache. Für sie ist es schließlich alles andere als selbstverständlich, in die Schule gehen zu dürfen. Asmaa möchte einmal Ärztin werden. „Wenn man ihr in die Augen schaut, glaubt man fest: Sie kann es schaffen – wenn man ihr dabei hilft“, berichtet Lindl.

Der JRS will dabei helfen und setzt neben der Grundversorgung mit Lebensmitteln vor allem auf Bildung. Finanzielle Unterstützung erhält die Hilfsorganisation von kirchlichen Spendern aus aller Welt, unter anderem von der Diözese Augsburg. Eine staatliche Förderung gibt es nicht. An den sieben Schulen des JRS im Libanon werden zur Zeit etwa 2700 Kinder unterrichtet. Von der Vorschule bis zur achten Klasse. 

Besonderes Augenmerk wird auf den Englischunterricht gelegt. Denn im Libanon wird in den öffentlichen und privaten Schulen auf Englisch unterrichtet. Außerdem müssen die Neuankömmlinge auf den Bildungsstand libanesischer Schüler gebracht werden, damit sie die Möglichkeit haben, in eine öffentliche Schule zu wechseln. Allerdings werden nur etwa 40 Prozent der Flüchtlingskinder aufgenommen. Die Kapazitäten sind begrenzt. Die Schulleiter der öffentlichen Schulen schätzen die Vorbereitung in den Schulen des JRS sehr. Die Kinder sind hoch motiviert und lassen sich in den libanesischen Klassen gut integrieren. 

Dennoch wollen die meisten lieber in den Schulen des JRS bleiben. Das liegt gewiss auch daran, dass hier mit viel pädagogischem Einfühlungsvermögen auf die besonderen Bedürfnisse der Kinder eingegangen wird, vermutet Lindl. An jeder Schule des JRS steht ein Sozialarbeiter zur Verfügung und auch psychologische Hilfe kann geleistet werden.

Illegale Flüchtlinge

Asmaa ist glücklich in Baalbek. Sie darf lernen, bekommt gesunde Verpflegung von der Schulküche und fühlt sich geborgen. Ist sie jetzt glücklicher als in Syrien? Asmaa schüttelt den Kopf. Es ist zu spüren, wie sehr sie ihre Heimat vermisst, sagt Lindl. Die Flüchtlinge im Libanon haben es nicht leicht. Etwa ein Drittel ist illegal hier. Die Ausstellung offizieller Dokumente können sie sich nicht leisten. Viele finden keine Arbeit. Und selbst wenn sie Arbeit gefunden haben, werden sie weit unter dem landesüblichen Lohn bezahlt. Immerhin haben Asmaas Eltern Arbeit gefunden. Ihre Mutter arbeitet als Verkäuferin, der Vater auf dem Bau. Ihre 20-jährige Schwester ist noch auf der Suche.

Asmaas Lehrerin hat vor einem Jahr ihr Studium beendet. Sie wurde in Baalbek geboren. „Die Flüchtlinge hier werden freundlicher aufgenommen als anderswo. Viele Familien in Baalbek haben Verwandte in Syrien. Sie wissen um die Not dort und sind bereit, nach Kräften zu helfen.“ Aber natürlich gibt es auch hier nicht selten Vorbehalte. Nicht zuletzt von Libanesen, die wegen der gering bezahlten Flüchtlinge um ihre Arbeitsplätze fürchten. „Aber die meisten werden ohnehin nicht hier bleiben. Sie wollen zurück“, ist sich die junge Lehrerin sicher.

Und was brauchen die Menschen für eine gute Rückkehr? Die Kinder und Jugendlichen vor allem eine gute Schulausbildung, ist Ola Bosso überzeugt. Aber nicht nur auf das Wissen komme es an, auch auf Vertrauen, ein gutes Miteinander der Menschen und ein starkes Selbstbewusstsein, das den Menschen aus Syrien auf der Flucht oft abhanden gekommen ist.

Da die Lage in Syrien in manchen Regionen mittlerweile als sicher gilt, machen sich die ersten Flüchtlinge wieder auf den Weg nach Hause. Allein im ersten Halbjahr 2017 sind laut UN-Flüchtlingswerk mehr als 440 000 Syrer, die im eigenen Land auf der Flucht waren, in ihre Heimatorte zurückgegangen. Auch von den Flüchtlingen, die in die Nachbarländer geflohen sind, kehrten viele mittlerweile wieder in ihr Zuhause zurück.

Rund sechs Prozent Christen leben noch im Land. Ein Drittel hat Syrien verlassen. Auch aus der Pfarrei St. Kyrillos in Damaskus mit ihren ehemals 15 000 Katholiken. Die Mehrheit aber ist geblieben. So auch der 21-jährige Elias, der mit seinen Eltern und seinem Bruder im Pfarrgebiet lebt. An der Universität von Damaskus studiert er Zahnmedizin.

Entscheidung dazubleiben

Elias kann sich nicht vorstellen, zu fliehen: „Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Ich möchte meine Heimat nicht verlassen.“ Trotz aller Probleme habe er die Möglichkeit, Zahnmedizin zu studieren. „Man kann hier überleben“, sagt er. Viele seiner Freunde sind geflohen. Mit ihnen ist er via Internet in Kontakt. Vier sind in Deutschland, einer in Frankreich und einer in Australien. „Sie versuchen, sich dort eine Zukunft aufzubauen. Das gelingt ihnen ganz gut.“ Doch sie haben große Sehnsucht nach Damaskus. „Die meisten wollen zurück, wenn die Lage in Syrien wieder sicher ist“, erklärt Elias.

Die vergangenen Jahre seien nicht leicht gewesen. Das Leben in der Stadt werde durch den Krieg immer wieder gestört. Oft muss Elias die sieben Kilometer von der Universität nach Hause zu Fuß gehen, weil kein Bus fährt. „Natürlich haben wir auch Angst, von einem Mörserangriff getroffen zu werden.“ So wie vor drei Jahren, als an Weihnachten eine Granate im Dach seines Familienhauses eingeschlagen sei. Verletzt wurde dabei aber glücklicherweise niemand. 

Einen wichtigen Halt gibt ihm und vielen anderen der Glaube. „Wir lassen uns auch nicht von Anschlägen abhalten, in die Kirche zu gehen.“ Gleich zu Beginn des Krieges sei in der unmittelbaren Nähe von St. Kyrillos eine Autobombe explodiert. Die Menschen seien danach aber dennoch in den Gottesdienst gekommen. 

Elias leitet in der Pfarrei den Katechismuskurs und bringt so Kindern und Jugendlichen den Glauben näher. Um wieder eine funktionierende Gesellschaft aufbauen zu können, ist für ihn vor allem eines wichtig: der gemeinsame Dialog und das Gespräch. „Denn Frieden kann nicht durch Waffen geschaffen werden.“

Romana Kröling