Kulturgeschichtlich steht die Ukraine Russland näher als dem Westen. Doch unvergessen ist, wie Sowjetdiktator Josef Stalin Millionen Ukrainer in den Hungertod trieb. Das ist auch eine Erklärung für den Konflikt zwischen beiden Ländern, der jüngst auf der Halbinsel Krim eine neue, gefährliche Eskalationsstufe erreicht hat.
„Das ist hier doch mindestens so russisch wie in Moskau oder Sankt Petersburg“: Verwundert sagt sich das wohl fast jeder Ausländer beim Anblick pelzbemützter Menschen und orthodoxer Gotteshäuser im Stadtzentrum vom Kiew. In der Tat: Seit Jahrhunderten pflegt die Ukraine enge Verbindungen nicht nur zum Westen, sondern auch zum slawischen „Brudervolk“ in Russland.
Ukrainisch und Russisch bedienen sich kyrillischer Buchstaben, sie ähneln sich in Wortschatz und Aussprache, und in wohl kaum einer Stadt auf der Welt konzentrieren sich auf engstem Raum so viele russisch-orthodoxe Kirchen und Klöster wie in Kiew und Umgebung. In der wechselvollen Geschichte kam es zu Bündnissen mit Russland, aber auch zu Aufständen und blutigen Kriegen.
Nationale Identitätskrise
Seit Ende des 18. Jahrhunderts fühlten sich Teile des ukrainischen Bürgertums als das „kleine Russland“. Viele ukrainische Familien haben ihre Wurzeln im Nachbarland, dessen Speisen, Gebräuche und Literatur sie nicht missen möchten. Aus diesem teils widersprüchlichen Spannungsfeld zwischen Ost und West rührt gewissermaßen eine Krise der nationalen Identität.
Eine extreme Zuspitzung erfährt diese Krise seit rund fünf Jahren: Zuerst sprachen sich die Menschen auf der Halbinsel Krim in einem umstrittenen Referendum für den Beitritt zu Russland aus. Dann sagten sich auch im Donezkbecken pro-russische Rebellen von Kiew los. Seither herrscht Krieg. Die ambivalente Haltung vieler Ukrainer zu Russland wurzelt auch in den blutigen Ereignissen des vorigen Jahrhunderts, Dramen, die nicht vergessen wurden, obgleich kaum mehr öffentlich darüber gesprochen wird.
Während des 19. Jahrhunderts war ein Großteil der Ukraine Teil des Russischen Reichs. Die zaristische Regierung verbot den Ukrainern, ihre Sprache zu sprechen, und unterdrückte alle Regungen eigener Kultur und Identitätsbildung im Keim. Das führte dazu, dass nicht wenige Ukrainer das Land verließen.
Nach der Oktoberrevolution und der Machtübernahme durch die Bolschewisten 1917 war die Ukraine zunächst zwischen rivalisierenden kommunistischen, zarentreuen und nationalistischen Gruppen umkämpft. Kiew wechselte zwischen Februar 1918 und Juni 1920 nicht weniger als sieben Mal den Besitzer. Dann, im März 1921, wurde aus der Ukraine, die als Kornkammer des Riesenreichs galt, eine sozialistische Sowjetrepublik.
Die Probleme begannen mit dem ersten Fünfjahresplan, den Stalin, nach dem Tode Lenins oberster Sowjetführer, Anfang 1928 verkündete. Um die Industrialisierung voranzubringen, forderte der Plan eine umfassende Kollektivierung der Äcker und Felder, der Werkzeuge und Maschinen sowie der Nutztiere aller ukrainischen Bauern. Vor allem den Muschiks, den einfachen Bauern, sollte geholfen werden. Sie waren von alters her vom Landesherrn und von vermeintlich „gierigen, ausbeuterischen Großbauern“, den Kulaken, unterdrückt worden.
An die Stelle eines ursprünglichen Landlebens trat nach dem Willen Stalins eine sozialistische Agrarproduktion, deren Überlegenheit vermeintlich wissenschaftlich bewiesen worden war. Dazu sollten die kleinen Gehöfte, die es in der Ukraine zu Hunderttausenden gab, in riesigen Kollektiven zusammengefasst werden, um so die aus Sicht der Kommunisten unterwürfige und ignorante Landbevölkerung zu einem klassenbewussten, bäuerlichen Proletariat umzuerziehen.
Die Umstellung geschah mit der Maßgabe, im großen Stil Getreide für das Militär und die Industrie zu produzieren. Das Heer der benötigten Fabrikarbeiter und Rotarmisten musste schließlich irgendwie ernährt werden, lautete das Kalkül der Planer in Moskau. Die ersten Versuche, diese Politik umzusetzen, stießen in der Ukraine auf erbitterten Widerstand. Dies stachelte jedoch den Eifer der Bolschewisten noch weiter an.