Auf den ersten Blick sehen sie einfach nur hübsch aus – die Blüten der Maracuja, der Passiflora. Bei genauerem Hinsehen entdeckten fromme Mönche, die vor fast 500 Jahren zum Missionieren auf den lateinamerikanischen Kontinent gekommen waren, aber Erstaunliches: In verzückter Betrachtung der wohlriechenden Blüten der „Grenadille“, die da an allen Ecken und Enden wuchs, konnten sie Symbole für den Leidensweg Jesu erkennen.
Die drei Blütennarben: Stellten sie nicht die drei Nägel dar, mit denen Christus ans Kreuz genagelt wurde, zwei für die Hände, einer für die übereinandergelegten Füße? Die strahlenförmige Nebenkrone könnte die Dornenkrone darstellen. Und die fünf Staubblätter vergegenwärtigen die fünf Wunden. Der Fruchtknoten erinnert an den mit Essig getränkten Schwamm, die spitzen Blätter lassen an die Lanze denken, mit welcher Longinus die Seite von Jesus öffnete. Und die Ranken könnten eine Geißel versinnbildlichen. Die zehn Blütenblätter symbolisieren die zehn Jünger – zehn sind es, weil Petrus und Judas bei der Passion nicht anwesend waren.
Erste Beschreibung
In Europa erfuhr man im Jahr 1590 erstmals von der symbolträchtigen Blüte. Der spanische Jesuit José de Acosta, der nach 16 Jahren in seine Heimat zurückgekehrt war, berichtete in seiner „Historia Natural y Moral de las Indias“ (Natur- und Sittengeschichte der Indianer) als erster detailliert von den Passionssymbolen in der Blüte, definierte Nägel, Martersäule, Geißeln, Dornenkrone und Wunden. Er räumte allerdings ein, es sei schon eine gewisse Frömmigkeit nötig, um diese in den Blüten zu erkennen.
Inzwischen war die Pflanze, von der heute mehr als 400 botanische Arten bekannt sind, auf Schiffen nach Europa gebracht worden. Sie gediehen prächtig in den Botanischen Gärten, blühten und trugen Früchte. Die Gelehrten jener Zeit studierten sie eifrig. 1609 veröffentlichte der italienische Dominikanermönch Simone Parlasca in Genua eine Schrift mit dem Titel: „Die Blume der Grenadille, wie die Leiden unseres Herrn Jesus Christus, beschrieben und gepriesen.“ Damit sich alle Leser die Blüte bildhaft vorstellen konnten, lieferte er eine Zeichnung und beschrieb sie mit Erklärungen in Versen. Er schlug als neuen Namen „Passiflora“ vor, abgeleitet von „passio“ (Krankheit oder Leiden) und „flora“ (Blume).
Dieser lateinische Name setzte sich durch. Auch der italienische Jesuit und Botaniker Giovanni Battista Ferraris beschreibt sie in seinem 1633 in Rom erschienen Buch „De florum cultura“ als Passiflora: „Sie ist ein Mirakel für alle Zeiten hin, die göttliche Liebe hat darin mit eigener Hand die Schmerzen Christi bezeichnet.“
Die Ureinwohner Südamerikas waren mehr an den erfrischenden Früchten als an den Blüten der Passiflora interessiert und kultivierten die Pflanzen zu diesem Zweck. Die Früchte von etwa 60 Arten sind essbar. Die wirtschaftlich bedeutendste ist heute die allgemein als Maracuja bekannte „Passiflora edulis“, die hierzulande häufig Bestandteil von Multivitaminsaft, Fruchtjoghurt oder Konfitüre ist.