Jerusalems dunkle Seite

Täglicher Behörden-Dschungel

JERUSALEM – Pilger sehen sie kaum. Sie hat viele Schattierungen. Und sie beeinträchtigt das Leben von 324 000 Palästinensern, was  37 Prozent der Einwohner entspricht: die dunkle Seite Jerusalems. Drei Beispiele: Nur 59 Prozent der Palästinenser sind legal ans Wassernetz angeschlossen; vier von fünf palästinensischen Kindern leben unter der Armutsgrenze; seit 1967 hat das israelische Innenministerium 14 481 Palästinensern in Jerusalem das Aufenthaltsrecht aufgekündigt.

Diese und weitere Zahlen haben israelische Menschenrechtsorganisationen wie Acri, B’Tselem oder HaMoked ermittelt und veröffentlicht; im römisch-katholischen Menschenrechtszentrum „Gesellschaft von St. Yves“ haben sie einen palästinensischen Partner. Dieser unterhält zwei Büros, eines in Bethlehem und die Hauptstelle in Jerusalem. 26 palästinensische und ein israelisch-jüdischer Mitarbeiter, darunter neun Anwälte, bemühen sich, Palästinensern in allen Aspekten des Lebens beizustehen.

St. Yves, benannt nach dem Anwalt der Armen aus der Bretagne, leistet Christen wie Muslimen kostenlosen Rechtsbeistand: etwa bei der Meldung des Umzugs von Gaza nach Bethlehem, der Meldung des neugeborenen Kinds (Zehntausende von palästinensischen Kindern leben in Jerusalem ohne Eintrag im Meldeverzeichnis) oder beim Antrag auf Familienzusammenführung. Viele Palästinenser kennen ihre Rechte nicht. Die zweite Hürde ist die hebräische Sprache: Viele benötigen Hilfe beim Übersetzen und Ausfüllen. 

Dutzende Anträge

Möchte ein Palästinenser aus Jericho seine inländische Frau zu sich holen oder ein Palästinenser aus Jerusalem mit seiner aus dem zehn Kilometer entfernten Bethlehem stammenden palästinensischen Ehefrau legal zusammenleben – Israel als Besatzungsmacht und Kontrolleur des Melderegisters muss zustimmen. Dutzende solcher, oft seit Jahren anhängiger Anträge sind auf den Schreibtischen von St. Yves gelandet, wie auch dieser Fall:

Ein Palästinenser aus Jerusalem heiratete 2011 eine Frau aus Bethlehems Nachbarort Beit Sahour im Westjordanland. Sogleich stellte er einen Antrag auf Familienzusammenführung. Bis heute leben ihre vier Kinder in Jerusalem mit vorübergehendem Aufenthaltsstatus, der jährlich verlängert werden muss. In letzter Zeit litt der Familienvater an Augenproblemen, die zur Blindheit führten. Dadurch sank die Lebensqualität der Familie dramatisch, da das einzige Familienmitglied ausgefallen ist, das amtliche Schreiben lesen und beantworten kann.

Der Ehefrau ist sowohl das Autofahren in Jerusalem als auch das Ausfüllen von Dokumenten untersagt, da sie nur eine vorübergehend Aufenthaltserlaubnis besitzt.  „Durch die unsichtbaren Fesseln, die die israelische Regierung der Familie angelegt hat, ist praktisch die ganze Familie wie gelähmt“, urteilt St. Yves in einem jetzt veröffentlichten Bericht.

Direktor Raffoul Rofa schildert den langwierigen Prozess der Familienzusammenführung, bei dem den israelischen Behörden beispielsweise Eigentumsdokumente, Mietverträge, Wasserrechnungen oder Schulzeugnisse vorgelegt werden müssen. 

„Offiziell eingefroren“

„Seit dem Jahr 2000 sind Familienzusammenführungen bei gemischten Jerusalem-Westjordanland-Ehepaaren offiziell eingefroren“, erklärt der in Großbritannien ausgebildete Anwalt. Doch es gebe Ausnahmen. Dafür müsse der aus dem Westjordanland stammende Ehepartner ein bestimmtes Alter haben: mindestens 25 Jahre bei der Frau, 35 beim Mann. 

Das auch von Misereor und Missio unterstützte Zentrum kämpft weiter. „Wir tun etwas Gutes, trotz der schwierigen Atmosphäre“, versichert Rofa. „Wir streben danach, Gerechtigkeit und Frieden für alle zu erreichen, Palästinenser und Israelis.“ 

Johannes Zang

20.06.2018 - Ausland , Diskriminierung , Nahost