Attentat jährt sich zum 50. Mal

Vom Traum zum Trauma

Seine letzte öffentliche Rede schien von einer dunklen Vor­ahnung überschattet: „Auch ich möchte ein langes Leben führen“, sagte Martin Luther King in seiner Ansprache am 3. April 1968 im Mason Temple von Memphis, „aber jetzt bin ich darüber nicht mehr besorgt. Ich möchte nur noch Gottes Willen erfüllen. Er hat es mir erlaubt, den Berg zu besteigen. Von dort habe ich das Gelobte Land gesehen. Vielleicht werde ich nicht mehr mit euch dort hinkommen, aber ihr sollt heute Abend wissen, dass wir als Volk das Gelobte Land erreichen werden.“ 

Für viele war jener junge Pfarrer und charismatische Redner tatsächlich zu einem amerikanischen Moses geworden, dessen gewaltloser Kampf die Knechtschaft von Rassenwahn, sozialer Ausgrenzung, Armut und Krieg beenden sollte. Sein Verständnis lautete, „Stimme derer zu sein, die keine Stimme haben“. Sein Eintreten für ein Zusammenleben aller Menschen in Freiheit, Würde und Frieden im Geiste der Bergpredigt ist von zeitloser Wirkungskraft und Aktualität. 

Unter dem Namen Michael King Jr. wurde der Vorkämpfer der US-Bürgerrechtsbewegung am 15. Januar 1929 in Atlanta geboren, als zweites Kind des Baptistenpfarrers Michael King Sr. und seiner Frau Alberta, einer Lehrerin. Bereits King Sr. kämpfte Zeit seines Lebens für eine Verbesserung der politischen Rechte und sozialen Stellung der Schwarzen, er führte die Zweigstelle der Bürgerrechtsorganisation NAACP­­­ in Atlanta. Nach einem Besuch in Deutschland ließ der Vater 1934 sowohl seinen eigenen Vornamen als auch den seines Sohnes in „Martin Luther“ umändern, aus Bewunderung für den Reformator. 

Martin Luther King Jr. galt als hochbegabter Schüler, der zweimal eine Klasse überspringen durfte, einen Rhetorik-Wettbewerb gewann und bereits als 15-Jähriger zum Übertritt auf das einzige schwarze College in den Südstaaten zugelassen wurde. Er war früh von dem Willen beseelt, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten: Bereits mit 17 Jahren wurde er Hilfsprediger, 1955 promovierte er an der Universität Boston in Systematischer Theologie.

„Alles, was ich für die Bürgerrechte tue, sehe ich als Teil meines Dienstes als Pastor an, weil ich überzeugt bin, dass das Evangelium seinem Wesen nach dem ganzen Menschen dient. Es genügt nicht, sich um die Seele des Menschen zu sorgen. Man muss sich auch um den Körper und um die Umweltbedingungen kümmern, die die Seele verletzen können.“ 

Faszination für Gandhi

Während seines Studiums entdeckte King seine Faszination für Mahatma Gandhi und sein „Satyagraha“-Konzept des unbedingt gewaltlos bleibenden Widerstands: „Mir ist es unmöglich zu glauben, dass Gott möchte, dass ich jemanden hasse. Ich bin der Gewalt müde.“ In Boston hatte er auch die Gesangsstudentin und Bürgerrechtsaktivistin Coretta Scott kennengelernt. Im Juni 1953 heirateten die beiden. Das Paar hatte vier Kinder. 

Obgleich King eine akademische Karriere offenstand, zog es ihn 1954 wieder in den tiefen Süden, in Corettas Heimat Alabama: Er trat eine Pastorenstelle in der Baptistenkirche „Dexter Avenue“ in Montgomery an. Die Hauptstadt Alabamas war berüchtigt für ihre besonders unbarmherzige Rassentrennung, obgleich ein Drittel ihrer Einwohner Schwarze waren. Ausgerechnet hier ereignete sich die Initialzündung: Am 1. Dezember 1955 wurde Rosa Parks, die als Sekretärin bei der NAACP tätig war, von der Polizei festgenommen, weil sie sich in einem Linienbus weigerte, ihren Sitzplatz einem weißen Fahrgast zu überlassen. 

In der folgenden Nacht versammelten sich 50 führende Bürgerrechtler in einer Kirche, um das weitere Vorgehen zu beraten. Einer der NAACP-Aktivisten aus Alabama appellierte an den neu zugezogenen 26-jährigen Martin Luther King, sich als Pastor doch an die Spitze des Protests zu stellen. Er sei intelligent, zeige Organisationstalent und könne dank seiner charismatischen Erscheinung und seiner angenehmen Stimme als Redner enormen Eindruck hinterlassen. 

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich Kings Aufruf, die Transportunternehmen zu boykottieren und stattdessen zu Fuß oder per Fahrgemeinschaften ans Ziel zu gelangen. Der Busboykott dauerte 381 Tage lang an und brachte die Verkehrsbetriebe an den Rand des Bankrotts – die Schwarzen hatten erstmals ihre wirtschaftliche Macht demonstriert. 1956 folgte der juristische Triumph, als der Supreme Court jene Segregation in öffentlichen Bussen aufhob. 

King war bewusst, dass dies nur ein erster Sieg in einem langen Kampf gewesen war: „Glaubt nicht, ihr könnt jetzt deswegen eure Hände in den Schoß legen. Denn wenn wir jetzt aufhören, dann werden wir weitere 100 Jahre in den Kerkern der Rassentrennung und Diskriminierung verbringen. Und unsere Kinder und Kindeskinder werden unter der Knechtschaft leiden müssen, unter der wir jahrelang gelebt haben.“ 

Ständige Lebensgefahr

Durch die Montgomery-Kampagne wurde King zu einem der prominentesten Gesichter der Bürgerrechtsbewegung. Dies bedeutete ständige Gefahr für Leib und Leben: Kings Pfarrhaus wurde Ziel eines Bombenanschlags. Wie durch ein Wunder blieben er und seine Familie unverletzt. 

1957 wurde als Dachorganisa­tion­­ der Bürgerrechtsbewegung von schwarzen Kirchengemeinden aus dem ganzen Süden die „Southern Christian Leadership Conference“ (SCLC) gegründet. Martin Luther King wurde zu ihrem Präsidenten gewählt. 1959 brach King auf Einladung von Premier Jawaharlal Nehru zu einer einmonatigen Indien­reise auf. Er traf sich mit ehemaligen Mitstreitern Mahatma Gandhis und bekannte danach: „Ich verließ Indien stärker denn je davon überzeugt, dass gewaltloser Widerstand die mächtigste Waffe ist, die unterdrückten Völkern in ihrem Freiheitskampf zur Verfügung steht.“ 

1960 zog die Familie nach Atlanta, wo King die Stelle des zweiten Pfarrers in der Ebenezer-Baptistengemeinde seines Vaters übernehmen sollte. Nach einer Demonstration wurde er am 19. Oktober 1960 zum wiederholten Male verhaftet, unter dubiosen Umständen zu vier Monaten Zwangsarbeit verurteilt und in einer Nacht- und Nebelaktion ins 300 Kilometer weit entfernte Staatsgefängnis von Georgia in Reidsville gebracht, berüchtigt als Hochburg des Ku-Klux-Klans. 

Der demokratische Präsidentschaftskandidat John F. Kennedy intervenierte beim Gouverneur von Georgia sowie beim zuständigen Richter: Am 27. Oktober 1960 wurde King aus der Haft entlassen. Kennedy sollte bald darauf seinen knappen Wahlsieg über Nixon gerade auch seinen afroamerikanischen Wählern verdanken.

Später konnte King Kennedy zur Ausarbeitung eines neuen Bürgerrechtsgesetzes bewegen, welches jegliche Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder nationaler Herkunft untersagte. Doch die Verabschiedung des „Civil Rights Act“ 1964 sollte Kennedy nicht mehr erleben: Nach dem Attentat von Dallas am 22. November 1963 bemerkte King gegenüber seiner Frau: „Das Gleiche wird mit mir passieren! Das ist eine kranke Gesellschaft.“ 

Legendäre Worte

Eine der Sternstunden in Kings Leben war der Marsch von 250 000 Aktivisten auf Washington und die Demonstration am 28. August 1963 vor dem Lincoln Memorial – die bis dahin größte politische Kundgebung der US-amerikanischen Geschichte. In seiner Rede berief sich King unter anderem auf die Unabhängigkeitserklärung und auf die Verfassung. 

Nie zuvor wurden die Anliegen der Bürgerrechtsbewegung mit größerer rhetorischer Brillanz vorgetragen wie in jener Stunde, als King die Worte sprach: „Ich habe den Traum, dass sich diese Nation eines Tages erheben wird und dass sie den wahren Sinn ihres Credos mit Leben erfüllen wird.“ Damit bezog sich King auf die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, wonach alle Menschen „gleich geschaffen“ sind. 

„Ich habe einen Traum“, sagte King, „dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt.“ Jene Passagen waren gar nicht Teil von Kings Manuskript, er fügte sie hinzu, nachdem die neben ihm stehende Mahalia Jackson ihm während seiner Rede zugerufen hatte: „Erzähl ihnen doch von deinem Traum, Martin!“

Im Dezember 1964 wurde King mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Mitte der 1960er Jahre wurde King immer deutlicher bewusst, dass der Kampf für ein Ende der Diskriminierung nur eine Seite der Medaille sein konnte: King wurde zum Kritiker des zügellosen Kapitalismus und der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit. Er forderte von der US-Regierung die Regulierung von Banken und die Einführung eines flächendeckenden Gesundheitssystems. 

Für den Mai 1968 plante er eine Wiederholung des Marschs auf Washington vom August 1963, doch dieses Mal sollten Hundertausende Menschen aus den untersten Einkommensschichten unabhängig von ihrer Hautfarbe die Regierung und den Kongress zu einer grundsätzlichen Wende in der Wirtschaftspolitik zwingen. Damit nicht genug: 1967 brachte King seinen scharfen Protest gegen den Vietnamkrieg zum Ausdruck, insbesondere in seiner Riverside-Rede vom 4. April 1967 – auf den Tag genau ein Jahr vor seiner Ermordung. 

King sprach von einer „schrecklichen Allianz von Rassenwahn, Materialismus und Militarismus“. So gab etwa die US-Regierung für jeden getöteten Feind in Südostasien 320 000 Dollar aus, für die Armutsbekämpfung zu Hause aber nur 50 Dollar pro US-Bürger: „Ein Volk, das Jahr für Jahr mehr Geld ausgibt für militärische Verteidigung als für Sozialprogramme, gerät in die Nähe des geistigen Todes.“ 

King wurde seit langem vom FBI beschattet. Dessen Chef J. Edgar Hoover sah in dem Bürgerrechtler einen verkappten Kommunisten und immer radikaler agierenden Staatsfeind. Als King seinerseits das FBI beschuldigte, bei Straftaten des Ku-Klux-Klan tatenlos zuzusehen, schwor Hoover persönliche Rache und startete eine schmutzige Kampagne der Bespitzelung und Verleumdung gegen King.

Anfang April 1968 reiste King nach Memphis, Tennessee, um die schwarzen Angestellten der Müllabfuhr im Kampf gegen skandalöse Arbeitsbedingungen zu unterstützen. Bereits sein Hinflug verzögerte sich wegen einer Bombendrohung.

 King war Stammgast im Lorraine Motel, er mietete sich stets in Zimmer 306 ein. Am Nachmittag des 4. April bereitete er die abendliche Kundgebung vor. Soeben noch hatte er einen Musiker gebeten, seinen Lieblings-Gospelsong „Take My Hand, Precious Lord“ vorzubereiten, dann trat er hinaus auf den Balkon. Es war 18.01 Uhr, als ein lauter Knall die Stille zerriss: Ein Schuss traf King tödlich in den Kopf. 

Dem farbigen Journalisten Earl Caldwell und Kings Chauffeur Solomon Jones fiel auf der dem Motel gegenüberliegenden Straßenseite im Gebüsch eine Gestalt auf, die hastig das Weite suchte. Seine Recherchen führten Caldwell zu einem Obdachlosen, der beobachten konnte, wie jener Mann in den Sträuchern ein Gewehr zusammensetzte, einen Schuss abgab und dann die Waffe wieder zerlegte. Wie sich herausstellte, war jener Flüchtende nicht James Earl Ray, der später für den Mord vor Gericht gestellt wurde! 

Rassistischer Einzeltäter?

Der erst kurz zuvor aus einem Gefängnis ausgebrochene Ray soll als rassistischer Einzeltäter vom Badezimmer der gegenüberliegenden Pension geschossen und dann ausgerechnet sein Gewehr mit Fingerabdrücken zurückgelassen haben, ehe ihm eine bemerkenswerte Flucht gelang: Zwei Monate später wurde er am Londoner Flughafen Heathrow verhaftet. Ray, der zu 99 Jahren Haft verurteilt wurde und 1998 im Gefängnis starb, widerrief nachträglich sein Geständnis. 

Auch Kings Familie und viele seiner Mitstreiter sahen in Ray nur einen Sündenbock. So war etwa der maßgebliche Zeuge der Anklage, der Ray am Tatort gesehen haben will, zur Tatzeit sturzbetrunken. Viele FBI-Ermittlungsakten bleiben bis 2027 unter Verschluss. Ende 1999 konnte die Familie Kings den Fall in einem Zivilprozess neu aufrollen. Die Geschworenen kamen zu dem Ergebnis, dass King Opfer einer Verschwörung wurde, an der die Polizei von Memphis, US-Regierungsstellen und Geheimdienste sowie die Mafia beteiligt waren. 

Wie beim Kennedy-Attentat bleiben die nie aufgeklärten Umstände des Mordes an Martin Luther King eine offene Wunde für eine Na­tion,­­ welche zwar seit 1986 seinen Geburtstag als Feiertag begeht, sich aber aktuell immer weiter von Kings Traum zu entfernen scheint: die amerikanische Demokratie im Geiste echter Gerechtigkeit weiterzuentwickeln.

Michael Schmid