Sechs Monate nach der Flut

Wachsende Inseln der Hoffnung

Nach der verheerenden Flutkatastrophe im rheinland-pfälzischen Ahrtal im Juli 2021 engagieren sich Katholiken vor Ort als Anpacker und Seelsorger – mit Optimismus, Herzenswärme und kreativen Ideen. 

„Terny“ – so nennen ihn Freunde und Familie. Maternus „Terny“ Fiedler ist im Ahrtal so etwas wie eine Institution: ein Urgestein, das viele kennen und mögen. Früher war der zweifache Vater Beamter, er hat Jura studiert und dann als Geschäftsführer für Marketing und Tourismus gearbeitet. Sein Lateinlehrer meinte einst, Maternus heiße „der Mütterliche“, was ihm erst Gejohle und später Respekt und Anerkennung einbrachte. 

Maternus Fiedler hat tatsächlich eine „mütterliche“ Ader, heißt es. Er ist einer, der da ist, wenn es brennt, und der aus seiner Heimat nie wegziehen würde, „egal was passiere“, sagen die, die ihn kennen. Zusammen mit vielen anderen Katholiken im Ahrtal sorgte Maternus Fiedler im vergangenen Juli dafür, dass es nach der Jahrhundertflut irgendwie weiterging. Dass die Verwüstungen an Hab und Gut, die Verheerungen in Seele, Körper und Geist einigermaßen erträglich wurden.

Spuren der Flutnacht

Mindestens 134 Todesopfer hat die Flut gefordert, darunter zwölf Bewohner einer Behinderteneinrichtung in Sinzig. Zwar sind die Spuren der Flutnacht zwischen Dernau, Rech und Bad Neuenahr-Ahrweiler weithin sichtbar. „Doch immerhin haben wir fast sämtlichen Müll und viel vom giftigen Schlamm beseitigt“, sagt Fiedler beim Gespräch in der „Ahrche“.

Diese ist ein Treffpunkt für Menschen, die von dem nächtlichen Drama im vergangenen Sommer besonders hart getroffen wurden. Die „Ahrche“, benannt nach Noahs alttestamentarischer Arche, wirkt wie eine Insel der Hoffnung in einer weithin zerstörten Stadt. Errichtet wurde sie unter einem Festzeltdach, wo man sich bei Bedarf mit Werkzeug und Material für den Wiederaufbau eindecken kann. 

Ehrenamtler aus der Diaspora-Region

Die beheizbare Behelfsunterkunft unweit des früheren Klosters Kalvarienberg ist – wie so vieles andere in den zurückliegenden Monaten – vor allem unter tatkräftiger Mithilfe katholischer Ehrenamtler zustande gekommen, von denen einige aus Chemnitz, Rostock und anderen Dias­poraregionen angereist sind. „Jetzt weiß ich, wie sich Heimatvertriebene nach 1945 gefühlt haben müssen“, sagt eine junge Frau aus Thüringen am Nebentisch, während sich andere an der Salattheke bedienen, Zeitung lesen oder vor sich hindösen.

Allen Widrigkeiten zum Trotz scheint auch im Ahrtal das normale Leben weiterzugehen, scheinen sich die Menschen mit dem Sprung in Verhältnisse wie in der Nachkriegszeit  irgendwie arrangiert zu haben, auch wenn die rundum sichtbaren Zerstörungen immer wieder für Kummer, Wut und Zukunftsängste sorgen.

Die quälende Frage nach dem "Warum"

Fast im Dauereinsatz ist seit der Flut Pfarrer Jörg Meyrer, der durch seine einfühlsame Art ein gefragter Seelsorger, Konfliktberater und Ansprechpartner ist. Auch Meyrer hat keine Antwort auf die Frage, die die Menschen bewegt: warum Gott das Naturdrama zugelassen hat, warum sich die friedliche Ahr, die so gern als Motiv für Meditationspostkarten genutzt wurde, als todbringendes Monster entpuppte. Aus 30 Metern Flussbreite wurden plötzlich 500, und das bei sieben Metern Tiefe.

Mehr als 300 000 Tonnen Sperrmüll mussten Ende Juli 2021 aus dem Ahrtal entsorgt werden – ein Vielfaches dessen, was in normalen Jahren anfällt. Mehrere Schulen zogen in Behelfsunterkünfte, darunter ein Gymnasium und eine Berufsschule mit über 1000 Schülern. Von den vielen Brücken, die einst die Ahrufer verbanden, stehen heute nur noch Trümmerreste. 

Ein Tag brennt sich ein

Auch Maternus Fiedler selbst ist betroffen, sagt er, und zeigt Aufnahmen seines verschlammten Kellers, aufgenommen einen Tag nach der Flut am 15. Juli 2021. Ein Tag, der sich eingebrannt hat wie einst wohl nur der 11. September 2001 mit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York. Ein Tag, der das Leben vieler Bürger um 180 Grad gedreht hat. 

Das Leben „davor“ lässt er erscheinen wie einen schönen Traum, der in Fotoalben und Erinnerungen weiterlebt. Wer heute durch die einst blühende Kurstadt geht, erlebt eine Geisterstadt mit aufgerissenen Straßen, zugebretterten Türen und Schaufenstern, wo abends nur hier und da ein Fenster erleuchtet ist.

Gleich nach der Flut angepackt

Und dennoch: Von der Kata­­strophe lässt sich Maternus Fiedler – zumindest nach außen hin – kaum etwas anmerken. Der 67-Jährige hat direkt nach der Flut mit angepackt und ist mittlerweile das operative Hirn zahlreicher Initiativen engagierter Katholiken, die sich direkt nach der Flut im Ahrtal gebildet haben. So kam etwa das im Oktober neu an den Start gegangene „Ahrtalradio“ unkompliziert in den Räumen einer Pfarrgemeinde im nahen Heppingen unter. 

Täglich senden die Macher auf UKW und im Internet, wozu neben Neuem rund um die Flutfolgen auch Gottesdienstübertragungen gehören. Einer der Mitarbeiter ist Klaus Angel, examinierter Historiker, Lokalredakteur und PR-Referent. Für den 52-jährigen Saarländer, der einer katholischen Studentenverbindung angehört, ist die weitgehend ehrenamtliche Arbeit beim Ahrtalradio eine „Herzenssache“, sagt er. Und nicht nur für ihn. 

Unter dem Dach der katholischen Kirche treffen sich mittlerweile auch Helfer, von denen schon einige überlegen, dauerhaft im Ahrtal zu bleiben, weil es da „so schön“ sei und vielen Zugereisten der rheinische „Menschenschlag“ gefalle. Tatsächlich haben katholische Christen, angefangen beim Neuenahrer Bürgermeister Guido Orthen, die Federführung beim Wiederaufbau im Ahrtal übernommen, obgleich auch sie von der Katastrophe nicht verschont blieben.

Zeit, sich neu zu erfinden

Sicher ist: Im Ahrtal ist nichts mehr so, wie es war, und niemand weiß, wie es werden wird, all den Planungen und vollmundigen Versprechen der Politik zum Trotz. Für das Ahrtal schlug am 15. Juli 2021 die Stunde Null, wie nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg – eine Zeit, in der sich viele neu aufstellen und vielleicht auch „neu erfinden“ mussten. So drückt es der katholische Liedermacher Stephan Maria Glöckner aus. 

Sie tun dies mit Ideen, Tatkraft und einer Portion Humor, wofür das karnevalistisch angehauchte Rheinland berühmt ist – selbst wenn vielen noch lange nicht nach Lachen zumute sein dürfte.

Benedikt Vallendar

13.01.2022 - Katastrophe , Kirche , Soziales