Mindestens 14 000 Palästinenser schmuggelten sich nach Angaben der UN-Agentur OCHA zwischen Januar und März 2013 täglich vom Westjordanland nach Israel – ohne die erforderlichen Papiere. Die 2002 begonnene Barriere ist erst zu etwa 65 Prozent fertig und lässt viele Schlupflöcher für Palästinenser, denen kein Passierschein nach Israel gewährt wurde – oder für solche mit Schein, die sich die mitunter langen Wartezeiten an den neun bemannten Kontrollpunkten der israelischen Armee an der Grünen Linie ersparen wollen.
Angefangen wurde der Wall mit den vielen Namen während der Zweiten Intifada (Palästinenseraufstand), um israelische Bürger vor palästinensischen Selbstmordattentätern zu schützen. „Infolge des unaufhörlichen Terrors entschied Israel, eine Barriere zu errichten“, erklärt das israelische Außenministerium. „Der Zaun“ sei eine „legitime vorübergehende Sicherheitsmaßnahme“, keine Grenze und trenne Palästinenser nicht von ihren Feldern, wirtschaftlichen oder städtischen Zentren.
Berichte von OCHA oder der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem sprechen dagegen eine andere Sprache. Durch den Zick-Zack-Verlauf wird die Barriere bis zu 720 Kilometer lang sein, da sie zu 85 Prozent nicht der international anerkannten Waffenstillstandslinie von 1949, der so genannten Grünen Linie, folgt; die ist lediglich 315 Kilometer lang. Von offiziellen israelischen Stellen gerne Schutzwall oder Anti-Terror-Zaun genannt, schneidet dieser stellenweise tief ins palästinensische Land, beim so genannten Ariel-Finger gar 22 Kilometer.
Somit wird die Barriere 48 jüdische Siedlungen mit fast 190 000 Siedlern dem Staat Israel einverleiben. Deshalb sprechen israelische Friedens- und Menschenrechtsaktivisten sowie Palästinenser von Apartheid-, Landraub- oder Annexionsmauer. „Im Endausbau“ werde die Barriere „zirka sechs Prozent des West-Jordanlandes abgetrennt haben“, meint das deutsche Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung e.V. (BIB) im Rundbrief Nummer 30. Andere Quellen gehen von zehn Prozent Landverlust aus – nicht gerade wenig bei einem Gebiet, das nur etwas größer als der Bayerische Wald ist.
Über 150 palästinensische Ortschaften oder Stadtviertel mit einer Gesamtbevölkerung von einer halben Million Menschen sind vom Barrierebau betroffen – sie „landen“ entweder auf israelischer Seite der Mauer, sind von dieser teilweise oder gänzlich umgeben, haben Grundstücke und Ernten durch die Bauarbeiten verloren oder werden durch die Barriere von landwirtschaftlichen Flächen abgeschnitten. Dafür hat Israel 84 „landwirtschaftliche Tore“ eingerichtet.
„Ständig neue Ideen“
Die israelisch-jüdische Menschenrechtsaktivistin Ronny Perlman von Checkpoint Watch versieht Woche für Woche an einem solchen Tor ihren Dienst: um zwischen Palästinensern und Soldaten zu vermitteln oder um Letzteren ins Gewissen zu reden. Die 71-Jährige weiß von Toren, die nur dreimal am Tag für 20 Minuten öffnen. Leihe sich ein Bauer den Traktor seines Nachbarn, könne er nicht passieren. Auch Werkzeug händisch durch die Sperre zu tragen, sei nicht erlaubt. „Es ist absurd. Ständig gibt es neue Ideen, wie man das Leben verkomplizieren kann, damit die Palästinenser verschwinden, stumm und passiv werden oder in die Luft gehen.“
Bauer Tayseer hat das leidvoll erfahren: Wiederholt musste er Düngemittel wegen Sicherheitsbedenken kontrollieren lassen. „Oft haben die Soldaten diese nicht durchgelassen. Selbst Schösslinge und Pflanzen bedürfen einer Koordination (mit den Behörden), um passieren zu können.“ So nimmt es nicht wunder, dass der Ertrag der Olivenbäume in der Saumzone deutlich niedriger ausfällt als bei Bäumen, die man jederzeit erreichen kann: um 65 Prozent, wie OCHA ermittelte.