Alter Brauch

„Wissen, ob ihr fromm und rein“

Durch die Wolken am Himmel blinzelt ab und zu der Mond. Ganz im Dunkeln liegt Sankt Nikolaus, die Dorfkirche. Licht brennt im Keller des Rathauses gegenüber, wo sich eine kleine Schar junger Burschen für den großen Auftritt rüstet: sieben junge Männer, die sich vor dem Spiegel die Gesichter weißen.

Klausen heißen sie in Dietingen, dem Dörfchen vor den Toren der württembergischen Stadt Rottweil. Mit dem Nikolaus und dem Nussaweible, einem weiblichen Knecht Ruprecht, sind sie seit Jahrhunderten in der Woche vor dem Nikolausfest unterwegs, um ihre Mitmenschen mit kleinen Geschenken bei Laune zu halten. Peitschenknall kündet vom Start der Truppe. 

Sankt Nikolaus, der Älteste im Reigen, hat das Kommando. Stolz trägt er Mitra, Stola, Chorrock, Chorhemd und einen Bischofsstab. Den langen Bart hat er lässig um den Hals hängen. Sieben Klausen begleiten ihn, in schwarzen Hosen, weißen Hemden und mit Zackenkronen, die goldene Kreuze zieren. Quer über ihre Brust spannen sich kleine Schellengurte, wie sie einst Schlittenpferde trugen. Weiß sind ihre Gesichter. Früher war es Mehl, das man auf eine Fettschicht auftrug, heute eine Creme, mit der man gewöhnlich Babyhaut verwöhnt. 

Letzter im Bunde ist das Nussaweible im schwarzen Kapuzenkleid, das Gesicht hinter silbergrauem Kunstbart versteckt. Früher war die Rolle Männern vorbehalten, heute aber ist es eine junge Dame. Mit Freundinnen und ein paar Burschen hat sie die Woche zuvor rund einen Zentner Weihnachtsplätzchen gebacken. „Brötle“ heißen sie in Dietingen. Jetzt liegt die süße Fracht auf einem Leiterwagen, den die Klausen bei ihrem nächtlichen Umgang mitführen, zusammen mit einer Handvoll Haselnussstecken.

Immer lauter wird der Peitschenknall. Je schneller die Klausen ihre geflochtenen Riemen durch die Luft ziehen, desto mehr versetzen sie die Luft in Schwingung – bis zum Knall, der entsteht, wenn die Schallgeschwindigkeit überschritten wird. Das kostet viel Mühe und Kraft und noch mehr Übung.

Das Klepfen, wie die Einheimischen das Peitschen nennen, signalisiert das Nahen der wilden Schar. Wer jetzt das Licht am Hauseingang anknipst, sendet den Klausen einen Willkommensgruß. Nun ist höchste Zeit für die Wilden, ihre silbern glänzenden Kronen mit der Goldborte zu richten. Auch der Nikolaus zurrt seinen Bart nochmal fest.

So geht es in die Häuser, wo die Kinder die Truppe meist schon erwarten. Hin und wieder stecken die Eltern dem Nussaweible, das ursprünglich Nüsse statt Brötle verteilte, noch ein paar Päckchen zu: Gaben für die Kleinen, die seit Jahren allerdings immer weniger werden. Als Geschenkebringer scheint der Nikolaus ausgedient zu haben.

„Gelobt sei Jesus Christus!“ – mit der unter Katholiken früher weitverbreiteten Begrüßungsformel startet der Bischof die abendlichen Hausbesuche. „Euch Eltern gilt mein erstes Wort, sollt sein der Kinder Schirm und Hort. Mit gutem Beispiel geht voran, dann habt ihr eure Pflicht getan.“ Für viele Väter und Mütter ist das wie Balsam, Ermunterung für ihre tägliche Arbeit. 

Dann sind die Jüngsten dran. „Nun grüß ich euch, ihr Kinderlein“, hebt der Nikolaus an, „will wissen, ob ihr fromm und rein, will wissen, ob ihr früh aufsteht, und dann zur Heiligen Messe geht; ob ihr dort nur schwätzt und lacht und andere dumme Sachen macht, ob ihr den Eltern folgt geschwind, wie jedes gute brave Kind.“

Manche der Kleinen haben für den frommen Mann eine Überraschung parat oder singen ihm und seinen Begleitern ein Lied. Besonders beliebt: „Lasst uns froh und munter sein.“ Das Nussaweible richtet derweil den Korb mit den Brötle, die auf des Bischofs Kommando auf einen Teller geschüttet werden. Dann dürfen die Kinder zugreifen. 

Für alle Fälle lassen die Klausen eine ihrer Haselnussruten zurück, die einst zur Züchtigung dienten. Heute ist die Pädagogik nicht mehr mit Gewalt verbunden. In der modernen Spaßgesellschaft sind Klausen zu weihnachtlichen Vorboten mutiert, die am Brauch selbst die größte Freude haben. 

„Friede sei euch allerwegen“, wünscht der Nikolaus zum Schluss, „und vor allem Gottes Segen. Behüt euch Gott und bleibet fromm bis nächstes Jahr ich wieder komm.“ Kurz danach knallen die Korken, ploppen die Flaschen, lädt der Hausherr zum Umtrunk. Und er erinnert sich an Zeiten, in denen er selbst zu den Klausen gehörte. 

Seit 200 Jahren belegt

Seit mehr als 200 Jahren ist der Umgang der Klausen in Dietingen belegt. Vermutlich ist er viel älter. Früher war das Klausen im württembergischen Schwarzwald und am oberen Ne­ckar weit verbreitet. Zu seinen Wurzeln gehören die mittelalterlichen Umgänge sogenannter Nikolaus- oder Knabenbischöfe, Schüler der Chor- und Stiftskirchen, die in vielen Teilen Europas am Nikolaustag unterwegs waren.

Dietingens Klausen organisieren ihren Brauch in Eigenregie. Traditionell ist er Sache der 18-Jährigen. Mitte November kommen sie zusammen, um die Rollen für die abendlichen Umgänge zu verteilen und die Routen festzulegen. Zwei, drei Tage war man früher unterwegs, heute eine Woche. Schließlich ist das 786 in einer Urkunde des Klosters St. Gallen erstmals erwähnte Dorf kräftig gewachsen.

Günter Schenk