Brasiliens Volksheiliger

Wo künftige Präsidenten auf die Knie sinken

In Brasilien steht in diesem Jahr die Wahl eines neuen Präsidenten an. Mancher Kandidat wird wohl wie in früheren Wahlkämpfen in eine Stadt im verarmten und ausgetrockneten Nordosten pilgern, um dort für sich göttlichen Beistand zu erbitten: Juazeiro do Norte. Hier gedenken die Gläubigen eines Priesters, der weder heilig- noch seliggesprochen wurde, im größten katholischen Land der Erde aber wie ein Heiliger verehrt wird: Padre Cícero (1844 bis 1934).

Dass Präsidentschaftskandidaten erst den Wallfahrtsort Juazeiro aufsuchen müssen, um dem Pater ihre Aufwartung zu machen, gilt in Brasilien als ungeschriebenes Gesetz. Kein Kandidat kann in der Region mit Stimmen rechnen, wenn er zuvor nicht den Zuspruch des Volksheiligen erbeten hat. Der Besuch soll zeigen, dass sich die Bewerber um die Belange der religiösen Bewohner kümmern werden, sollten sie das angestrebte Amt erreichen. 

Glühend verehrter Pater

Der Status des „Heiligen“ war mehr als 100 Jahre lang verzwickt: Die katholische Kirche hatte ihre liebe Not mit dem inoffiziellen Kult um den Padre. Der in Brasilien glühend verehrte Gottesmann war für Rom Persona non grata. Das Idol von Millionen Katholiken – ein vom Vatikan Exkommunizierter? Die Gläubigen im Sertão, dem riesigen Hinterland des Bundesstaats Ceará, hat das nicht gekümmert.

Zu Tausenden strömen sie jeden Tag nach Juazeiro, einen Ort, der nur dank des Wirkens dieses Mannes überhaupt auf der Landkarte auftaucht. Zu Allerheiligen pilgert mehr als eine halbe Million Gläubige hierher. In Autobussen kommen sie an oder auf Ladeflächen von Lastwägen. Viele haben über 1000 Kilometer zurückgelegt, um zu ihrem „Padim Cíco“ zu kommen, dem Wundertäter, der immer ein Ohr und ein Herz für die Armen und Geknechteten hatte.

Padre Cícero wurde am 24. März 1844 als Cícero Romão Batista geboren. 1870 erfolgte seine Priesterweihe. Als junger Gottesmann besuchte er Juazeiro, damals ein kleines Dorf. In einem Traum soll Christus ihn beauftragt haben, sich der bettelarmen Bevölkerung anzunehmen. In der Folgezeit ging ihm der Ruf voraus, Vorkämpfer der Besitzlosen zu sein.

1889 beteten Frauen in einer Andacht darum, dass die Region von einer weiteren Trockenzeit verschont bleiben möge. Was sich dann ereignete, wurde von Anwesenden als Wunder empfunden: Eine der Gläubigen fiel in Trance zu Boden, nachdem sie von Cícero die heilige Kommu­nion empfangen und sich die Hostie in ihrem Mund offenbar in Blut verwandelt hatte. Als sich das Blutwunder wiederholte und in den Gebetsandachten von Padre Cícero Kranke geheilt wurden, begann man ihn als Heiligen zu verehren. 

Vermeintliche Wunder

Die vermeintlichen Wunder und die Popularität des Padre lösten bei der Kirche unterschiedliche Reaktio­nen aus: Ein Teil des Episkopats begrüßte Cíceros Wirken als Unterstützung im Kampf gegen den säkularen, liberalistischen Zeitgeist. Zugleich bezweifelten kirchliche Behörden aber die Wunder. Den religiö­sen Fanatismus, der sich um Cícero herum entwickelte, betrachteten sie als unvereinbar mit der Lehre der Kirche. Befürchtungen wurden laut, Cíceros Bewegung könne zu einem Schisma führen.

Als das Bistum Cícero die Ausübung seines Priesteramts untersagte, fügte sich dieser der Weisung. Er war jedoch nicht bereit, Juazeiro zu verlassen. Den Menschenmassen, die sich täglich vor seinem Haus versammelten, erteilte er weiterhin seinen Segen. Auch soll er weiterhin Messen gehalten haben.

1898 wurde Cícero von Papst Leo XIII. nach Rom gerufen und dort von Vertretern des Heiligen Offiziums, der Vorgängerbehörde der Glaubenskongregation, empfangen. Die Suspendierung durch den Bischof wurde zwar vorerst aufgehoben. Doch trotz Cíceros Willen, den Bruch mit der Kirche zu vermeiden, wurde er gegen Ende seines Lebens exkommuniziert. Bis zu seinem Tod  im Juli 1934 lebte er als Bürgermeister von Juazeiro und geschätzter Ratgeber in weltlichen und religiösen Belangen.

Zahlreiche Freikirchen

Nicht nur der Disput um Padre Cícero hat die katholische Kirche in Brasilien in den vergangenen Jahrzehnten in Bedrängnis gebracht: Vor allem die zahlreichen Freikirchen und Sekten sind es, die die Gläubigen abzuwerben versuchen. Pro Jahr werden Tausende neue religiöse Gemeinschaften gegründet, die sich bei der Finanzbehörde Receita Federal anmelden. Fast stündlich erfolgen Registrierungen von Sekten mit teils skurrilen Fantasienamen.

Eine andere Konkurrenz ist der Kirche in Gestalt einer sich ebenfalls als katholisch begreifenden Natio­nalkirche erwachsen: Die Katholisch-Apostolische Kirche Brasiliens wurde 1945 von einem ehemaligen katholischen Bischof gegründet. Ihren nach eigenen Angaben rund 500 000 Anhängern gilt Padre Cícero auch formell als Heiliger.

In der römisch-katholischen Diözese Crato wuchs die Überzeugung, man müsse die Millionen Verehrer, die Cícero im Nordosten Brasiliens hat, mit Rom versöhnen. Jahrelang bemühte sich Bischof Fernando Panico um die Rehabilitierung durch den Vatikan. Es war der damalige Kardinal Joseph Ratzinger, zu jener Zeit Präfekt der Glaubenskongregation, der den Prozess entscheidend voranbrachte. 

Abgeschlossen wurde er kurz vor Weihnachten 2015, als Bischof Panico einer jubelnden Menge verkündete, dass Papst Franziskus Cíceros Exkommunikation aufgehoben hat. 2016 zelebrierte sogar der Generalsekretär der brasilianischen Bischofskonferenz, Leonardo Ulrich Steiner, in Juazeiro vor Tausenden Gläubigen eine Messe. „Ich bin tief beeindruckt von der Kraft des Glaubens und des Gebets hier in der Stadt von Padre Cícero“, sagte der deutschstämmige Weihbischof.

Die Verehrer von Cícero wollen jetzt umgehend die Selig- und die Heiligsprechung ihres Idols an die Hand nehmen, dessen 30 Meter hohe Statue das Sanktuarium auf dem Hügel von Juazeiro überragt. An Belegen für Wunder dürfte es in ihren Augen nicht mangeln: Die Wände mit den Sammlungen von Votivgaben im Sanktuarium werden jede Woche länger.

Rosalva da Conceição Lima, die in Juazeiro von allen Dona Rosinha genannt wird, ist dem Pater als junges Mädchen noch persönlich begegnet. „Für mich ist er bereits ein Heiliger. Als solcher wurde er geboren, lebte er mit uns und starb er“, zeigt sich die 97-Jährige überzeugt. Sie lebt in ihrem Häuschen an der Rua do Horto, jener Straße, die zum Sanktuarium auf dem Hügel hinaufführt.

Großer Trauerzug

Sie erinnert sich noch lebhaft, wie untröstlich die Menschen nach Cíceros Tod waren: Den großen Trauerzug sieht sie noch vor sich, als wäre er erst gestern an ihr vorbeigezogen. „Es war wie ein Meer von Leuten, das seinen Sarg wie ein Boot trug“, erinnert sie sich. Und noch etwas hat Rosalva ihr Leben lang nicht vergessen – jenen Rat, den der Padre ihr einst gab: „Bete, als ob du bald zu Gott gingest. Und arbeite so, als ob du ewig hier bleiben würdest. Dann wird immer gesorgt sein für dich und deine Leute.“

Karl Horat

23.03.2018 - Ausland , Lateinamerika , Vatikan