Gegen zu große Einschränkungen

Schäuble: Schutz von Leben nicht absolut setzen

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat angesichts der Einschränkungen vieler Grundrechte davor gewarnt, dem Schutz von Leben in der Corona-Krise alles unterzuordnen. "Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig", sagte der CDU-Politiker in einem Interview des "Tagesspiegel" (Sonntag).

"Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen", betonte Schäuble. "Der Staat muss für alle die bestmögliche gesundheitliche Versorgung gewährleisten. Aber Menschen werden weiter auch an Corona sterben", sagte er. "Mit allen Vorbelastungen und bei meinem Alter bin ich Hochrisikogruppe. Meine Angst ist aber begrenzt. Wir sterben alle. Und ich finde, Jüngere haben eigentlich ein viel größeres Risiko als ich. Mein natürliches Lebensende ist nämlich ein bisschen näher."

Schäuble warnte, bald könnte ein Kipppunkt bei der Stimmung in der Bevölkerung erreicht sein. "Es wird schwieriger, je länger es dauert." Gesundheitsminister Jens Spahn habe recht, wenn er sage, alle hätten miteinander noch viel zu lernen. "Wir alle wissen nicht, was unser Handeln für Auswirkungen hat, aber die Politik muss trotzdem handeln", sagte Schäuble.

Der Weg zurück aus dem Stillstand sei schwieriger als der Weg hinein. "Man muss vorsichtig Schritt für Schritt vorgehen und bereit sein, zu lernen. Manche sagen, wenn's zu viel war, muss man Lockerungen wieder zurücknehmen." Das Zurücknehmen werde aber viel schwieriger. "Wir dürfen nicht allein den Virologen die Entscheidungen überlassen, sondern müssen auch die gewaltigen ökonomischen, sozialen, psychologischen und sonstigen Auswirkungen abwägen. Zwei Jahre lang einfach alles stillzulegen, auch das hätte fürchterliche Folgen."

Schäuble sieht in der Corona-Krise auch eine Chance, Schieflagen durch die Globalisierung und das kapitalistische Wirtschaftssystem zu beheben. "Wir haben vor Jahren alle mitgemacht, Finanzmärkte zu deregulieren. Es kam die Finanzkrise, und wir stellten fest: Wir haben es übertrieben", sagte er. Solche Entwicklungen zu korrigieren, sei kein Fehler. "Genauso müssen wir jetzt das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft neu justieren." Er sei überhaupt nicht dafür, das marktwirtschaftliche Prinzip des Wettbewerbs abzuschaffen. "Aber zur sozialen Marktwirtschaft gehört auch, dass wir in dieser Lage über stärkere Ausgleichs- und Begrenzungsmechanismen sprechen müssen."

Der frühere Bundesfinanzminister warnte angesichts der Corona-Pandemie vor einer Überlastung der staatlichen Handlungsfähigkeit und einer zu hohen Neuverschuldung. Es gebe im Moment ein verbreitetes Gefühl, "wir könnten jedes Problem mit unbegrenzten staatlichen Mitteln lösen, und die Wirtschaft kriegen wir hinterher wieder mit einem Konjunkturprogramm in Gang", sagte er. "Der Staat kann aber nicht auf Dauer den Umsatz ersetzen."

KNA

27.04.2020 - Corona , Gesellschaft , Politik