Jesus ist mein Hirte“ prangt auf dem Heckfenster des Busses, der seine Menschenfracht durchs Hochland rumpelt. Das Ziel: Copacabana, ein paar Fahrstunden entfernt von der Metropole La Paz. Copacabana? Wer den Namen mit einem Traumstrand Brasiliens und goldbraunen Traumkörpern assoziiert, liegt weit daneben. Das bolivianische Copacabana ist ein Städtchen, das sich klimatisch und geografisch in einer anderen Dimension bewegt.
Oft ist es eisig kalt, hier auf einer Höhe von 3800 Metern an den Ufern des Titicacasees. Das Wasser schimmert in einer Mischung aus Tief-, Grün-, Ultramarin- und Indigoblau. Doch die Ströme der Ankömmlinge fließen nicht nur aufs Seeufer zu, sondern mitten hinein ins urbane Herz, aus dem sich ein gewaltiger, leuchtheller Komplex erhebt: das Marienheiligtum der Virgen de la Candelaria, Mariä Lichtmess.
Der Ruf als wichtigstes Wallfahrtsziel des südamerikanischen Landes gründet sich auf ein wundertätiges Madonnenbildnis, das Francisco Tito Yupanqui 1582 aus Agavenholz schnitzte. Der Künstler Yupanqui – und das ist bis heute immens wichtig für die Identifikation im indigen geprägten Bolivien – war selbst ein Indio und sogar ein Abkömmling der Inka.
Durch die Dominikaner fand er zum christlichen Glauben, zum Blick auf die aus Europa stammende Kunst und zu einem Marienbildnis aus der Dominikanerkirche in Potosí, das er zum Vorbild für seines nahm. Gegenüber dem Hauptzugang ins Heiligtum von Copacabana ist er als übermannsgroßes Bronzebildnis zugegen, erhaben und elegant, gekleidet wie ein Ehrenmann, trägt allerdings Sandalen. Liebevoll hält er die Skulptur Mariens mit dem Kind in der Hand.
Das Bildwerk im Innern des Sanktuariums erlebte seine Thronerhebung an Mariä Lichtmess 1583 und ist seither nie von dort wegbewegt worden – aus Furcht, dies könne eine große Überflutung des Titicacasees nach sich ziehen. So erzählt es eine Infotafel, die von der Vermischung von Glaube und Aberglaube kündet. Die größten Pilgerzuläufe verzeichnet Copacabana alljährlich zu Mariä Lichtmess am 2. Februar und zu Maria Schnee am 5. August.
Ein Fest des Glaubens
Auch wer an einem beliebigen Sonntag kommt, erlebt, wie die Bolivianer ihr Alltagsfest des Glaubens feiern. Dann sind zwischen früh morgens und abends zahlreiche Messen angesetzt, bei denen sich die Kirchenbänke bis zum letzten Platz füllen können, Großfamilien mit Kind und Kegel anrücken, Keyboards zum dezibelstarken Einsatz kommen, bei Liedern munter geklatscht und das „Gloria Halleluja“ mit größter Inbrunst geschmettert wird.
Die Unruhe, die ständig herrscht, gehört dazu und stört hier niemanden. Mal kreischt ein Baby, mal klingelt ein Handy. Während der Messe, selbst während der Predigt, gehen Gläubige nach vorne bis nahe an den Altar und legen Blumengaben nieder. Und doch gibt es Regeln. Schilder mahnen nicht nur überall striktes Fotografierverbot im langgestreckten, farbdurchtränkten Innenraum des Gotteshauses an, sondern warnen bei Zuwiderhandlung vor der Beschlagnahme der Kamera.
Waren es einstmals die Augustiner, sind es seit Ende des 19. Jahrhunderts die Franziskaner, die sich als Wächter des Sanktuariums verstehen und um die Pilgermessen kümmern. Da vor Ort lediglich fünf leben, bekommen sie gelegentlich Hilfe von ihren Brüdern. So wie von Pfarrer Marcelo Garrón, der bei Bedarf aus La Paz anreist und mit Begeisterung seine Messen hält.