Kurz vor dem Aufprall drehte sich der Selbstmörder um. „Er blickte mich direkt an! Das war schlimm.“ H. sucht nach einer Erklärung. „Das machen sie alle, das ist normal. Auge in Auge.“ Möchte nicht jeder wissen, was einen Moment vor dem Tod passiert? „Sie blicken dich an, als letzte Instinkthandlung.“ Und dann sei da dieses Geräusch gewesen, das er nicht mehr aus dem Kopf kriegt. Das Geräusch, als der Zug den Körper erfasste.
Kein schlimmer Traum
Beim ersten Suizid glaubte Lukas H. an einen schlimmen Traum. Nach der Bremsung lief er zurück und sah nach. Den Notruf hatte er schon betätigt. „Ich bin nur noch zurück ins Führerhaus und blieb dort sitzen, bis die Rettungskräfte kamen. Ich war allein und dachte nach.“ Eine Stunde dauerte es, bis sich jemand um ihn kümmerte. Dann kam die Ablöse. Er selbst wurde für einige Wochen krankgeschrieben.
„Damals war die Bahn noch nicht so organisiert wie heute mit den Notfallmanagern.“ Nach dem ersten Selbstmord, dessen Zeuge er wider Willen wurde, konnte Lukas H. nicht mehr abschalten. „Erst der Hund, dann die Person, das war einfach zu viel.“ Monatelang fuhr er mit der Angst, „so etwas könnte wieder passieren“, sagt er. „Manche Kollegen packen es überhaupt nicht mehr.“
Mit Schock in die Klinik
Sieben Jahre ging für Lukas H. alles gut. Dann, 2005, der Nächste: Er stand mitten in den Gleisen. „Ich dachte nur, hoffentlich komme ich an ihm vorbei.“ Natürlich war das ein frommer Wunsch. H. kam mit einem Schock ins Krankenhaus. Traumatisiert, sagt er, sei er heute nicht. Die Albträume hörten irgendwann auf. Und wenn da trotzdem mal was war, würde er nicht mit Kollegen drüber reden. Auch eine therapeutische Behandlung hat er nie in Anspruch genommen.
Dann, erneut sieben Jahre später, wieder bei Heilbronn: „Es war wie im Film. Diesmal ein junger Mann, der über eine Brücke lief.“ H. reduzierte die Geschwindigkeit durch Vollbremsung. Da er nun langsamer fuhr, veränderte sich sein Blickwinkel und er musste alles mit ansehen. „Man selbst ist einfach nur starr.“ Dann denkt er an die plötzliche Leere, die er damals fühlte und an den ersten Gedanken, dass es sich um eine Puppe handeln könnte. Und an dieses schreckliche Geräusch.
Danach wurde der Lokführer selbst in den Krankenwagen gehievt. Er sagt, dass sich seit dem ersten entsetzlichen Erlebnis 1998 viel getan habe. Die Bahn kümmere sich heute durch Experten gezielt um die Betroffenen.
Lokführer ist Lukas H. noch immer. In wenigen Wochen beginnt sein Ruhestand. Diese Zeit will er noch hinter sich bringen. Aber die Uhr tickt: Denn er weiß, dass wieder mehr als sieben Jahre vergangen sind seit dem letzten Zwischenfall.
Sabine Ludwig
Information
Hilfe bekommen Menschen mit Suizidgedanken zum Beispiel bei der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention: www.suizidprophylaxe.de. Ansprechpartner kann auch die Telefonseelsorge sein: 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 (kostenfrei) sowie im Internet unter www.telefonseelsorge.de. Was Angehörige und Freunde tun können, lesen Sie bei der Deutschen Depressionshilfe: www.deutsche-depressionshilfe.de/depression-infos-und-hilfe/rat-fuer-angehoerige
Dokumentation:
Die Deutsche Bahn (DB) äußert sich wie folgt zu Schienensuiziden:
Bemessen an den rund 20 000 Lokführern bei der DB und einer jährlichen Rate von etwa 700 Fällen in Deutschland erleben Lokführer statistisch gesehen alle 20 Jahre einen Schienensuizid (in einem 45-jährigen Berufsleben etwa zweimal).
Die DB nimmt ihre Verantwortung gegenüber ihren Mitarbeitern, die während ihrer Tätigkeit traumatischen Ereignissen ausgesetzt sein können, sehr ernst. Im Mittelpunkt steht ein umfassendes Betreuungsprogramm zur Vermeidung posttraumatischer Belastungsstörungen. Es entspricht dem Stand der Traumapsychologie und wird konzernweit angewendet.
Die Prävention – die gedankliche Auseinandersetzung mit den Folgen eines möglichen traumatischen Ereignisses – ist sowohl Teil der Ausbildung als auch des Fortbildungsunterrichts. Triebfahrzeugführer und Zugbegleiter werden durch ein Team von Psychologen geschult, wie sie mit belastenden Ereignissen umgehen können.
Betroffene Mitarbeiter werden vor Ort unmittelbar von einem Notfallmanager bzw. durch Personal für die psychologische Erste Hilfe professionell betreut. Lokführer werden bei Personenunfällen ausnahmslos von einem Kollegen abgelöst und nach Hause begleitet. Und bleiben solange außer Dienst, bis die aus dem Ereignis resultierenden Belastungsreaktionen bei ihnen abgeklungen sind.
Bei den ersten Fahrten nach dem Wiedereintritt in den Dienst hat der Lokführer die Möglichkeit, sich von einem Gruppenführer, einer Vertrauensperson oder einem Psychologen begleiten zu lassen.