Marvin war noch keine 17 Jahre alt, als er festgenommen wurde, obwohl die Polizisten keinen Hinweis auf ein Verbrechen hatten. Solche willkürlichen Festnahmen sind im mittelamerikanischen Land El Salvador alltäglich, seit die Regierung im März zur Bekämpfung krimineller Banden den Ausnahmezustand ausgerufen hat.
Viele Gefängniszellen sind so überfüllt, dass die Häftlinge nicht genug Platz haben, sich nachts alle auf den Boden zu legen. Kirchliche Organisationen fordern die Einhaltung grundlegender Menschenrechte. Doch die meisten Gefangenen wissen nicht einmal, wann ihr Fall vor Gericht behandelt wird.
Aparicio Franco, genannt „Don Ticho“, sitzt stundenlang unter den rostigen Wellblechplatten vor seinem Häuschen in der Provinz Chalatenango, im Norden von El Salvador. Der alte Mann mit grauem Schnurrbart vermisst seinen Sohn Ernesto und den Enkel Alexander. Das letzte Mal hat er die beiden vor sechs Monaten gesehen. Er erzählt, wie an jenem Abend plötzlich eine Patrouille aufgetaucht ist. Eigentlich wollten die Polizisten Don Tichos ältesten Enkel festnehmen. Als sie den nicht fanden, beschlossen sie, stattdessen seinen jüngeren Bruder und den Vater mitzunehmen.
Dessen Schwester Guadalupe ist empört über die Willkür: „Sie kamen einfach ins Haus. Wir haben keine Rechte mehr, wegen des Ausnahmezustands. Sie verlangten unsere Ausweise. Dann haben sie meinen Neffen gesucht. Sie sagten nur, er müsse mitkommen, um eine Aussage zu machen. Aber sie hatten keinerlei Dokumente mit seinem Namen. Tatsächlich geht es den Polizisten nur darum, eine bestimmte Zahl Menschen zu verhaften. Wir wissen nicht, wie es meinem Neffen und meinem Bruder geht. Das war vor sechs Monaten.“ Niemand weiß, wie lange die Haft dauert, Angehörige bekommen fast keine Informationen. Dennoch müssen sie für die Verpflegung der Häftlinge aufkommen: 150 Dollar im Monat.
Weder links noch rechts
Präsident des Landes ist seit 2019 Nayib Bukele, dessen Großvater ein christlicher Palästinenser aus Bethlehem war. Er hat die Partei „Nuevas Ideas“ (Neue Ideen) gegründet. Ihre Mitglieder wollen weder links noch rechts sein. Dass der Präsident sich mit der Europäischen Union genauso angelegt hat wie mit den USA und der Weltbank, hat ihn in den ärmlichen Siedlungen der Städte El Salvadors eher noch populärer gemacht.
Während der Corona-Pandemie hat Bukeles Regierung gelernt, das Land mit Notstandsmaßnahmen unter Kontrolle zu bringen. Jetzt will der Präsident seine Wiederwahl sichern. Eigentlich verbietet die salvadorianische Verfassung eine direkt anschließende zweite Amtszeit. Doch auf Verfassungsvorgaben legt Bukele offenbar genauso wenig Wert wie auf die Menschenrechte der Häftlinge.
Die Verfassung erlaubt einen Ausnahmezustand für bis zu 30 Tage – üblicherweise nach Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Tropenstürmen. Im Kampf gegen das organisierte Verbrechen hat das Parlament den Notstand nun schon so oft verlängert, dass sich die Polizisten förmlich daran gewöhnten, ohne Haftbefehl und teils ohne Ermittlung festnehmen zu dürfen.
Mehr als 50 000 Menschen wurden bereits weggesperrt. Auch die in der Verfassung garantierte Unschuldsvermutung ist aufgehoben. Die Massenverhaftungen sind eine zentrale Strategie im Krieg gegen die Maras, die berüchtigten Jugendbanden El Salvadors, die, wie im Städtchen Sonsonate, für ungezählte Morde verantwortlich sind.
„Meiner Meinung nach leistet der Präsident eine hervorragende Arbeit“, sagt Mechaniker Balmore Giménez, der in Sonsonate eine Autowerkstatt besitzt. Dem Kleinunternehmer ist es egal, dass Nayib Bukele das Parlament, das Justizsystem und große Teile der Medien unter seine Kontrolle gebracht hat. Für die Verbesserung der Sicherheitslage ist er bereit, viele seiner fundamentalen Rechte aufzugeben. „Ich werde ihn wieder wählen“, sagt Giménez. „Er kämpft gegen die Blutsauger des Volkes. Diese Gangster zerstören unsere Gesellschaft.“ So sehen es die meisten Salvadorianer.