Das Villenviertel von Neu-Delhi am Freitag, den 30. Januar 1948 um 17.17 Uhr: Auf dem Anwesen des Großindustriellen Birla versammeln sich Mahatma Gandhi und Hunderte seiner Anhänger wie jeden Tag im Garten, um die Abendandacht zu feiern. Plötzlich tritt ein Mann aus den Reihen der Wartenden heran, stößt die beiden Großnichten Manu und Abha, die Gandhi begleiten, beiseite, zieht ungehindert eine automatische Pistole und schießt dem Mahatma dreimal aus nächster Nähe in Brust und Magen.
Gandhi, der großen Blutverlust erleidet, wird ins Haus getragen, doch kein Arzt ist anwesend. Je nach Augenzeugenbericht erlag Gandhi entweder sofort oder 30 Minuten später seinen Verletzungen. Jawaharlal Nehru, Gandhis langjähriger Weggefährte und nun erster Premierminister Indiens, fasst in einer Radioansprache die Gefühlslage der Nation in folgende Worte: „In unseren Leben ist das Licht verloschen, und nun ist überall Dunkelheit …“
Weltweit herrschen Bestürzung und Trauer. Warum wurde ausgerechnet der friedfertigste Mensch seiner Generation, der überall Gewaltlosigkeit, Mitgefühl und Versöhnung predigte, das Opfer eines derartigen Hassverbrechens? Noch unverständlicher wird die Bluttat durch den Umstand, dass bereits zehn Tage zuvor ein erstes Attentat auf den Mahatma fehlgeschlagen war – stand er denn seither nicht unter Polizeischutz?
Sofort verbreitet sich das Gerücht, Gandhi sei von einem radikalen Muslim erschossen worden. Umso größer die Überraschung, als bekannt wird, dass der verhaftete Attentäter, der 39-jährige Nathuram Godse aus Puna in Maharashtra, wie Gandhi ein Hindu war. Gerade aus heutiger Perspektive erscheinen die Hintergründe der Tat – religiös-nationalistischer Fanatismus im Allgemeinen und der indisch-pakistanische Dauerkonflikt im Besonderen – erschreckend aktuell.
Mohandas Karamchand Gandhi wurde am 2. Oktober 1869 in Porbandar in der Region Gujarat an der indischen Westküste geboren. Seine Familie zählte zur politischen Führungselite, Vater und Großvater dienten im lokalen Fürstenstaat als Premierminister und oberste Richter. In Gandhis Familie wurde die auf Spiritualität ausgerichtete Vishnuismus-Strömung des Hinduismus praktiziert und religiöse Toleranz gelebt: So kam der junge Gandhi in Berührung mit den Lehren des Buddhismus, des Islam und des in Gujarat heimischen Jainismus, der das Prinzip des „Ahimsa“, der rigorosen Gewaltlosigkeit, vertritt. Letztendlich vereinte Gandhis Lebensphilosophie der Selbstvervollkommnung und Selbstkontrolle, des Strebens nach der Wahrheit (Satya) und nach dem Göttlichen als Weg zur Erlösung die besten Elemente der indischen Religionen und Kulturen.
Fan der Bergpredigt
Gandhi beschäftigte sich auch mit dem Neuen Testament, insbesondere mit der Bergpredigt und kam zu dem Schluss: „Ich werde den Hindus sagen, dass ihr Leben unvollständig ist, wenn sie nicht ehrerbietig die Lehren Jesu studieren.“ Eigentlich wollte Gandhi Arzt werden, doch dem Wunsch seines verstorbenen Vaters entsprechend studierte er in London Jura und wurde Rechtsanwalt. 1893 wurde er als Rechtsbeistand für einen Freund der Familie nach Südafrika geschickt.
Am Anfang seines politischen Engagements stand eine schockierende Erfahrung mit der Rassendiskriminierung, die Gandhi gleichsam zum Wutbürger werden ließ: Als er in der Bahn wie üblich in der ersten Klasse reiste, warf ihn der Schaffner nach seiner Weigerung, als „Farbiger“ in den Gepäckwagen umzusteigen, aus dem Zug. Voller Empörung schwor sich Gandhi, fortan aktiv für die Rechte der 60 000 Inder in Südafrika zu streiten. Erstaunlicherweise zog Gandhi damals sogar die Militäruniform an, er nahm auf Seiten der Briten 1899 als Sanitäter am Zweiten Burenkrieg teil und erhielt sogar einen Orden.
In Südafrika experimentierte Gandhi erstmals mit den Möglichkeiten des passiven, gewaltlosen Widerstands. Dafür erfand er einen Begriff, der in die Geschichte des indischen Freiheitskampfes eingehen sollte: „Satyagraha“ (wörtlich: „Festhalten an der Wahrheit“) konnte ein breites Spektrum umfassen, von Provokationen der Staatsmacht und zivilem Ungehorsam über Arbeitsniederlegungen und Boykotten bis hin zu Hungerstreiks.
Als Gandhi 1914 Südafrika wieder verließ, hatte er im Kampf gegen diskriminierende Gesetze eine erstaunliche Erfolgsbilanz vorzuweisen. Beim Empfang in Indien verliehen ihm seine Mitstreiter gegen seinen Willen den Ehrentitel Mahatma (in Sanskrit: „Große Seele“). Gandhi schloss sich dem Indischen Nationalkongress (INC) an, seit 1885 die treibende Kraft für die Unabhängigkeit vom britischen Empire.
Indien den Hindus
Bereits 1906 hatte Gandhi in London einen Aktivisten kennengelernt, der sich zu seinem radikalen Gegenbild entwickeln sollte: Vinayak Damodar Savarkar lehnte Gandhis Gewaltlosigkeit ab, wurde von den Briten für 50 Jahre auf die Andamanen verbannt und übernahm nach seiner vorzeitigen Begnadigung 1937 die Führung der ultranationalistischen Partei Hindu Mahasabha, als Gegenkraft zur Muslim-Liga und dem INC. Der Kerngedanke von Savarkars Ideologie „Hinduvata“ lautete: Indien allein den Hindus – Angehörige anderer Religionen seien bestenfalls geduldete „Gäste“.
Gandhi, der dagegen die Gleichheit der Religionen predigte, das Hindu-Kastensystem ablehnte und sich für die „Unberührbaren“ einsetzte, hatte inzwischen einen radikal asketischen Lebensstil adaptiert. Zu seinem Symbol wurde das Spinnrad: Jeder Inder könne die Unabhängigkeitsbewegung unterstützen, wenn er seine Kleidung selbst spinne, britische Textilien boykottiere und sich grundsätzlich jeglicher Kooperation mit der Kolonialmacht verweigere.
Doch auch Gandhi konnte nicht verhindern, dass Satyagraha-Aktionen immer häufiger von Gewalt begleitet wurden. Darüber hinaus rief er mit seinen utopischen Vorstellungen von Indien als einer Republik von Dörfern, mit seiner Ablehnung von Industrialisierung, Kapitalismus und westlichen Bildungssystemen bei der indischen Elite Kopfschütteln hervor. Je mehr Gandhis Einfluss auf die INC-Führungsebene schwand, desto populärer wurde er bei der breiten Bevölkerung. Seine nahezu religiöse Verehrung wurde noch durch die PR-Strategie des INC genährt: Um die Masse der indischen Bauern zu gewinnen, ließ der INC Theaterstücke aufführen, in denen Gandhi als neuer Heilsbringer, ja als Reinkarnation von Heiligen oder Helden aus der Hindu-Mythologie dargestellt wurde.