Sie gilt als eine der rätselhaftesten Handschriften der Geschichte: das Voynich-Manuskript – benannt nach dem Sammler Wilfrid Michael Voy-nich, der es 1912 erwarb. Seit Jahrzehnten versuchen Experten, die unbekannte Schrift zu entschlüsseln und die Bedeutung der umstrittenen Bilddarstellungen zu ergründen. Jetzt hat der deutsche Ägyptologe Rainer Hannig eine Lösung für das Rätsel vorgelegt. Er geht davon aus, dass es sich bei der Schrift um spätmittelalterliches Hebräisch handelt. Im Exklusiv-Interview erläutert er seine Erkenntnisse.
Professor Hannig, wie haben Sie – kurz skizziert – das Voynich-Manuskript entschlüsselt?
Das Ganze begann im Jahr 2017. Neben meinen Arbeiten am ägyptischen Wörterbuch für die Zeit des Neues Reichs und der Dritten Zwischenzeit begann ich mich systematisch mit dem Voynich-Manuskript zu beschäftigen. Ich verglich als erstes die Voynich-Zeichen mit allen möglichen europäischen und außereuropäischen Schriftsystemen. Die Verteilung der Vokale und die kurzen Wörter deuteten dabei eindeutig auf eine semitische Sprache hin, und der im Text oft vorkommende – von mir richtig vermutete, wie sich später herausstellen sollte – Artikel verwies auf die hebräische Sprache.
Genau zu dieser Zeit veröffentlichte das Team von Computerspezialisten um Greg Kondrak an der Universität Alberta im Januar 2018 seine Ergebnisse, dass es sich bei der Voynich-Sprache zu 80 Prozent um Hebräisch handle. Als ich davon las, pausierte ich einige Zeit mit meiner Forschung, da ich annahm, dass das Team aus Alberta die Lösung damit gefunden hatte. Aber dann stellte sich heraus, dass trotz dieses Ergebnisses keine sinnvolle Übersetzung zustande kam.
Dies lag unter anderem daran, dass viele Laute falsch zugeordnet worden waren und man die Begatkefat-Laute nicht identifiziert hatte. Dabei handelt es sich um Zeichen, die im Hebräischen eine zweifache Aussprache haben können, je nachdem, ob sie mit einem Punkt im Zeichen – als „Dagesh lene“ bezeichnet – geschrieben werden oder nicht.
Diese Entdeckung verdanke ich einer kleinen, aber wichtigen Beobachtung von Glen Claston, die bisher in den meisten Transkriptionen des Textes unbeachtet geblieben ist: Es gibt nicht nur vier sogenannte Galgenzeichen im Voynich-Alphabet, sondern sechs – und diese sechs konnte ich den sechs Begatkefat-Lauten im Hebräischen zuordnen und damit ihren Lautwert bestimmen. Insgesamt geht es um eine Gruppe von zwölf Zeichen. In der Voynich-Schrift sind dies die sogenannten Galgenzeichen. Damit hatte ich eine Grundlage für die Übersetzung der ersten Texte.
Es gab schon zahlreiche Versuche, die Schrift zu entschlüsseln. Manche Forscher meinen sogar, sie habe inhaltlich überhaupt keine Bedeutung, sondern sei reine Fantasie. Warum ist gerade Ihre Entschlüsselung zutreffend?
Gegen die Annahme einer Fantasiesprache spricht meines Erachtens die Struktur der Wörter, denn Vokale werden wie bei einer natürlichen Sprache strukturgerecht eingesetzt und bestimmte Buchstaben signalisieren das Ende eines Wortes. Die Wortstruktur findet sich zwar bei keiner indo-europäischen Sprache, aber sehr wohl bei einer semitischen.
Bei der Übersetzung fand ich dann immer wieder passende grammatische Konstruktionen und Wortzusammenstellungen wie „essen“ und „Suppe“ oder Gegensätze und Paare wie „du“ und „ich“ in einem Satz beziehungsweise Sinnzusammenhang. Dies kann nicht zufällig auftreten und belegte damit die Richtigkeit der Lesung.
Ihre Entschlüsselung ergibt kuriose hebräische Sätze, die sich übersetzt etwa so lesen: „Ich ein Stier bereit, der ermöglicht und erneuert das Haus und Ruinen.“ Wie kommt das?
Solche Sätze in der Erstübersetzung beziehungsweise Interlinear--Übersetzung sind ganz normal, wenn man mit alten Texten und besonders mit nichteuropäischen Sprachen zu tun hat. Interlinear--Übersetzungen sind noch keine richtigen Übersetzungen, sondern dienen lediglich dazu, die Reihenfolge der Wörter im Satz und damit die Grammatik und Sprachstruktur deutlich zu machen. Auch bei den Interlinear-Übersetzungen des Alten und Neuen Testaments geht man so vor. Das ist bei hieroglyphischen Texten nicht anders.
Die Wortstellung in vielen alten und/oder außereuropäischen Sprachen ist eine andere als im Deutschen. Zudem werden Füllwörter weggelassen oder anders verwendet und andere Sprachbilder benutzt, die sich nie eins zu eins in die Zielsprache übertragen lassen, sondern für die man im nächsten Übersetzungsschritt ein Äquivalent finden muss, damit der heutige Leser es verstehen kann.
In der interpretativen Übersetzung könnte der genannte Voynich-Satz zum Beispiel lauten: „Ich (bin) bereit (wie) ein Stier, der es ermöglicht, das Haus zu erneuern und (aus Ruinen wiedererstehen zu lassen).“ Weiter geht es dann mit: „Du bist (wie) ein Lamm, dass das Maul aufsperrt und (wenn man es) Auge in Auge (anblickt) entmutigt ist.“
Das ergibt durchaus Sinn und klingt zuerst einmal wie ein Sprichwort nach dem Motto „Quod licet Iovi, non licet bovi“ oder profaner gesagt: „Ich bin der, der sagt, was gemacht wird, und du bist still.“ Oder so ähnlich. Doch von wem es stammen könnte, worauf es sich bezieht, und ob es wirklich ein Sprichwort, Motto oder Zitat ist, kann man erst beurteilen, wenn mehr aus dem Voynich-Texten übersetzt ist.
Je besser man eine alte Sprache und die dazu gehörende Kultur kennt, desto genauer können interpretative Übersetzungen angefertigt werden, doch bei der Voynich-Sprache stehen wir noch ganz am Anfang. Uns fehlt hier der Kontext. Und momentan ist es so, als ob man eine Stelle aus einem privaten Brief liest, ohne die handelnden Personen oder den Zusammenhang zu kennen.