Martin Niemöller

Vom U-Boot-Mann zum Kämpfer für den Frieden

Er ist eine der schillerndsten Figuren der neueren Kirchengeschichte. Mit vielen Attributen wurde er belegt: Kämpfer und U-Bootkommandant, Preuße und Protestant, Heiliger und Haudegen, Verkündiger und Demagoge, Seeteufel und Friedensengel, Widersacher und persönlicher Gefangener Adolf Hitlers, Gewissen der Nation. Vor 40 Jahren, am
6. März 1984, starb Pastor Martin Niemöller.

Sein Name ist vor allem mit der evangelischen Kirchengemeinde in Berlin-Dahlem verbunden: eine Gemeinde, die auch nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten im Januar 1933 ein Zuhause für alle sein wollte, gerade auch für getaufte Juden. Menschen wie die Mutter von Monika Diethelm-Knoefel.

„Nach der Machtergreifung war sie einsamer, weil ihre Freundinnen alle im Bund Deutscher Mädel waren“, erinnert sich Diethelm-Knoefel an Aussagen ihrer Mutter. Nach den Nürnberger Rassegesetzen im September 1935 galt sie wegen ihrer eigenen Mutter als „Halbjüdin“. In Dahlem aber sei sie akzeptiert gewesen. Sie konnte zur Konfirmation und zur Jugendgruppe gehen. Als getaufte Jüdin zählte sie selbstverständlich zur Kirchengemeinde. 

Ohne Bevormundung

Ganz anders sahen das die NS-nahen Deutschen Christen und Reichsbischof Ludwig Müller. Sie wollten den sogenannten Arierparagrafen in der Kirche durchsetzen und damit eine Kirche schaffen, in der Juden keinen Platz mehr haben. Dagegen gründete sich der Pfarrernotbund um Niemöller. In der Bekennenden Kirche sammelten sich diejenigen, die ein evangeliumsgemäßes Christentum ohne staatliche Bevormundung wollten. 

Bevor ihre Familie 1937 in die Schweiz fliehen konnte, bekamen alle noch die Wirren des Kirchenkampfs mit, erinnert sich Monika Diethelm-Knoefel an die Aussagen ihrer Mutter. Pastor Niemöller, Vorsitzender des Pfarrernotbunds und Frontmann der Bekennenden Kirche, sprach sich klar gegen die Deutschen Christen und Reichsbischof Müller aus.

„Niemöller hatte diesen einmal gefragt: Wieso haben Sie diese Aufgabe übernommen? Dann habe der Reichsbischof Müller gesagt: Gott hat mich gerufen! Und dann hat Niemöller gesagt: Wenn Gott schon Müller gerufen hat, warum mussten ausgerechnet Sie sich angesprochen fühlen?“, zitiert Monika Diethelm-Knoefel aus den Erinnerungen ihrer Mutter. 

Martin Niemöller wurde 1892 im westfälischen Lippstadt in eine Pfarrersfamilie geboren. Nach dem Abi­tur schlug er die Offizierslaufbahn ein. Im Ersten Weltkrieg wurde er zum hochdekorierten U-Bootkommandanten. Beinahe hätte er wohl ein Schiff mit Albert Schweitzer torpediert, wenn dieses im senegalesischen Dakar ausgelaufen wäre. In den 1950er Jahren wurden er und Schweitzer zu engen Freunden in der Anti-Atom-Bewegung.

Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete Niemöller zunächst bei der Inneren Mission in Münster, dann studierte er Theologie. Aus seiner Ablehnung der Weimarer Republik und der Unterstützung für den aufkommenden Nationalsozialismus machte er keinen Hehl. Erst das Erstarken der Deutschen Christen ließ ihn in Opposition gehen. Beim Kanzlerempfang am 25. Januar 1934 wagte Niemöller als einziger, Adolf Hitler zu widersprechen: Das Wohl für Volk und Vaterland sei nicht nur Sache der NSDAP, sondern auch der Kirche. 

Predigtstar Niemöller

„Dahlem wurde neben Barmen zum Leuchtturm des Kirchenkampfs. Barmen wegen der Barmer Theologischen Erklärung und Dahlem wegen der Wirksamkeit Martin Niemöllers“, sagt der Berliner Historiker Manfred Gailus. Regelmäßig besuchten mehr als 1000 Zuhörer Niemöllers Gottesdienste. Er wurde zum Predigtstar – bis er 1937 in U-Haft kam und im März 1938 ins KZ. Fortan galt er als „persönlicher Gefangener Adolf Hitlers“. 

Dahlem sei danach zum Mythos des Kirchenkampfs geworden, sagt Gailus. Die Realität allerdings sah anders aus. Denn in Dahlem gab es noch einen anderen Pfarrer, Eberhard Röhricht. Und der wollte Ruhe und keinen Kirchenkampf. Die Gemeinde Dahlem spaltete sich. In seiner haftbedingten Abwesenheit wurde die Niemöller-Gemeinde von Helmut Gollwitzer betreut, einem Schüler des Schweizer Theologen und Nazi-Gegners Karl Barth. 

Gollwitzer aber wurde hinausgedrängt. Selbst die berühmten Fürbittgottesdienste für Niemöller und die anderen in Haft genommenen Christen wurden eingeschränkt und schließlich eingestellt. Nach dem Krieg ging die Spaltung noch weiter bis zur Pensionierung von Pfarrer Röhricht im Jahr 1958.

Lange habe man diesen unwürdigen Streit in der evangelischen Kirche nicht sehen wollen, sagt Historiker Gailus. Vielmehr pflegte man den Mythos von der Widerstandsgemeinde Dahlem, die vor allem im Ausland ihren guten Ruf behalten sollte als Hort eines auch guten Deutschlands während der Hitler-Diktatur.

KZ-Haft überlebt

Und Martin Niemöller? Er überlebte die KZ-Haft in Sachsenhausen und später in Dachau. Nach 1945 kehrte er allerdings nicht in seine alte Gemeinde Berlin-Dahlem zurück. „Niemöller hatte inzwischen einen außerordentlichen Ruf vor allem im Ausland“, erklärt Gailus. „Eine Aura. Man kann sich das nur so erklären, dass Niemöller sich nicht vorstellen konnte, unter Dibelius in Berlin weiterzuarbeiten.“

Der Mann der Stunde in Berlin hieß Otto Dibelius. Der Generalsuperintendent hatte sich im Mai 1945, also praktisch zeitgleich mit der Kapitulation der Wehrmacht und dem Zusammenbruch des NS-Regimes, eigenmächtig zum Berliner Bischof berufen. Ab 1949 wurde er EKD-Ratsvorsitzender und beherrschte noch bis 1966 die Evangelische Kirche in Deutschland. 

Niemöller wurde 1947 zwar zum Präsidenten der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau gewählt. Gleichzeitig bekleidete er das Amt des EKD-Auslandsbischofs, scheiterte aber 1949 bei der Wahl zum EKD-Ratsvorsitzenden. „Dibelius bekam alle Stimmen der lutherischen Landeskirchen: Hannover, Bayern, Württemberg. Das waren die CDU-Leute“, konstatiert Manfred Gailus.

Dibelius selbst war CDU-Parteimitglied und prägte einen – wie Gailus es ausdrückt – „CDU-Protestantismus“ mit. Auch politisch war er auf Linie. Dibelius gilt als Anti-Kommunist, der sich vorbehaltlos auf die Seite seines Parteifreunds, Bundeskanzler Konrad Adenauer, und seiner Westintegration stellte. Auch die Wiederbewaffnung der westdeutschen Bundesrepublik wurde von der EKD gestützt. 

Niemöller versuchte dagegen einen eigenen Weg der Öffnung gegenüber dem sozialistisch gewordenen Osten. Anfang der 1950er Jahre reiste er sogar nach Moskau, wofür er stark kritisiert wurde. Innerhalb der EKD blieb Niemöller machtlos. 1956 verlor er sogar sein EKD-Außenamt. Selbst in der eigenen Familie erntete er Widerspruch.

„Mein Bruder Jan war bis 1948 in russischer Kriegsgefangenschaft. Er konnte aus eigenem Erleben etwas über die Sowjetrussen erzählen“, erinnert sich Niemöllers Sohn Martin jr. im Gespräch. „Er hatte den Eindruck, dass mein Vater die politischen Verhältnisse in und um die Sowjetunion herum zu naiv beurteilte.“

Seit Sachsenhausen kannte Martin Niemöller seinen „KZ-Kameraden“ Hans Seigewasser. Seigewasser wurde Staatssekretär für Kirchenfragen in der DDR. Über ihn konnte Niemöller sich für DDR-Bürger einsetzen, um ihnen etwa Westreisen zu ermöglichen. Gerade diese Offenheit gegenüber den Genossen in der SED sieht sein Sohn heute kritisch.

„Die Möglichkeiten einer Verständigung mit der DDR und mit der Sowjetunion überschätzte er“, meint Martin Niemöller jr. „Das Toxische des sowjetischen Systems hat er nicht so recht begriffen. Das war überdeckt von seinem Bemühen um Frieden, um Kriegsvermeidung. Er war eben ein radikaler Pazifist.“

Gegen Atomwaffen

Aus dem U-Bootkommandanten Martin Niemöller war ein radikaler Friedenskämpfer geworden – einer, der sich zuerst gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik wandte und dann gegen jegliche Nuklearbewaffnung. Von seiner Linie ließ er sich nie abbringen, auch wenn er keine Mehrheiten hinter sich vereinigen konnte. 

Dennoch oder gerade deswegen blieb er bis zu seinem Tod am 6. März 1984 eine wichtige Stimme im deutschen Protestantismus. Dass die evangelische Kirche in Deutschland heute ein eher sozialdemokratisch-ökologisches Profil angenommen hat, ist wohl auch der Beharrlichkeit Martin Niemöllers zu verdanken, meint der Berliner Historiker Gailus.

„Auf lange Sicht ist das eine Tradition der Bekennenden Kirche und der Bruderräte, die sich in Richtung SPD entwickelte“, sagt er. Sie habe evangelischen Kirchenleuten, Theologen und Pfarrern die Möglichkeit eröffnet, auch der sozialdemokratischen SPD anzugehören – statt stets nur „bei der CDU mitzumachen“.

Thomas Klatt

01.03.2024 - Deutschland , Kirchen , NS-Zeit