Vor 100 Jahren geboren

Otfried Preußler: Vater des „Räubers Hotzenplotz“

Wer für Kinder schreibt, übt den Beruf des Schriftstellers unter erschwerten Bedingungen aus, und dies freiwillig. Die Regeln sind streng“, beschrieb Otfried Preußler sein Metier. „Wer für Erwachsene schreibt, schreibt ausschließlich für Erwachsene. Wer für Kinder schreibt, schreibt automatisch für Erwachsene mit.“ Tatsächlich hat Preußler bis heute Fans in allen Altersgruppen. Millionen kleiner Leser wurden durch ihn an Literatur herangeführt, wuchsen auf mit der kleinen Hexe, Räuber Hotzenplotz und Co. Unzählige ältere Semester lasen jene Geschichten ihren Kindern oder Enkeln vor. Seine über 30 Bücher wurden in 55 Sprachen übersetzt und erreichten eine Gesamtauflage von über 50 Millionen Exemplaren, nicht zu vergessen Millionen Tonträger, zahlreiche Verfilmungen und Theaterstücke sowie Adaptionen für die Augsburger Puppenkiste. 

Am 20. Oktober 1923 wurde Otfried Preußler im nordböhmischen Reichenberg (Liberec) geboren. Beide Eltern waren Lehrer mit einem Faible für Heimatforschung und Volkskunde und einer großen Bibliothek, in der der junge Otfried schmökern konnte. Er assistierte seinem Vater bei der Niederschrift mündlicher Sagen-Überlieferungen. 

Eine weitere schier unerschöpfliche Inspirationsquelle für seine späteren Werke waren die spannenden Erzählungen seiner Großmutter Dora, gesegnet mit einem enzyklopädischen Wissen über die böhmische Märchenwelt. Ermuntert von den Eltern, unternahm Otfried erste literarische Gehversuche, schrieb Gedichte und Kurzgeschichten.

Fünf Jahre im Lager

Zu einer traumatischen Zäsur wurden die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs: 1944 geriet der 21-jährige Leutnant Preußler in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Es folgten fünf harte Jahre in tatarischen Lagern. Sogar hier schrieb Preußler weiter: Gedichte und aufmunternde humoristische Theaterstücke für die Lagerbühne. 1949 wurde er aus der Gefangenschaft entlassen. 

Mit viel Glück fand Preußler in Rosenheim seine vertriebenen Angehörigen und seine Verlobte Annelies wieder. Die beiden heirateten noch im selben Jahr. Preußler arbeitete als Lokalreporter und von 1950 bis 1952 als Autor für den Kinderfunk. 1954 trat er in die elterlichen Fußstapfen und wurde Volksschullehrer und zuletzt Rektor in Stephanskirchen.

Als Vater von drei kleinen Töchtern war er gefordert, sich spannende Gute-Nacht-Geschichten einfallen zu lassen. Er entkleidete die vertrauten Erzählungen von Hexen, Gespenstern und Wassergeistern ihrer bedrohlichen Töne, fügte eine große Portion Humor und Ironie dazu und besann sich auf eine kindgerechte Sprache. So erblickte ein kleiner Kerl mit grünen Haaren das Licht der Welt: der „kleine Wassermann“ vom Mühlenweiher.

Bald folgte die „kleine Hexe“, eine 127 Jahre junge Zauberin in Begleitung ihres sprechenden Raben Abraxas, die versehentlich zu viele gute statt böser Taten vollbringt. Preußler hatte seinen Töchtern versichert, es gebe heute keine bösen Hexen mehr – und mit der kleinen Hexe lieferte er die Erklärung dazu. 

Seine Geschichten testete Preußler auch an seinen Schulklassen: Seine Jahre als Lehrer „sind Jahre gewesen, in denen auch ich – und zwar unter anderem als Geschichtenerzähler – zur Schule gegangen bin“. Seine Töchter und seine Schüler reagierten begeistert – ganz im Gegensatz zu den meisten Verlagen, die Anfang der 1950er Jahre Preußlers Manuskripte ablehnten. 

Als „Der kleine Wassermann“ 1956 in Druck gehen konnte, erhielt das Buch auf Anhieb den Sonderpreis des Deutschen Jugendbuchpreises und wurde in 32 Sprachen übersetzt. Das machte den Weg frei für den Höhenflug der „kleinen Hexe“ ab 1957: Vielen Fans dürfte jener Klassiker als Hörspiel auf Kassette oder Schallplatte in Erinnerung geblieben sein. In der Kinofassung von 2018 spielt Karoline Herfurth die kleine Hexe. 

Mut und Freundschaft

Preußler schaffte das Kunststück, aus Spuk- und Sagengestalten Identifikationsfiguren für eine junge Leserschaft zu machen. Oftmals sind es Außenseiter in einer fremden Erwachsenenwelt. In ihren Abenteuern geht es immer auch um Fragen von Ethik und Moral, um Werte wie Gerechtigkeit, Mut, Freundschaft, Hilfsbereitschaft und Respekt vor der Umwelt.

Die ­Trilogie der übersinnlichen Mini-Helden komplettierte 1966 das „kleine Gespenst“. Inspiriert ist es durch die in weiten Teilen Europas bekannten Spukgeschichten von der „Weißen Frau“. In der Version von Preußlers Großmutter hatte ein nächtlicher Spuk jener „Weißen Frau“ den Schwedengeneral Lennart Torstensson 1643 von der nordmährischen Burg Sovinec vertrieben. Aus dem Schreckgespenst wurde ein liebenswerter und hilfsbereiter Geist und aus dem Feldherrn ein sprechendes Gemälde im Rittersaal. 

Bei den Arbeiten zu „Krabat“ kämpfte Preußler zunächst mit einer Schreibblockade. Um sich abzulenken, wandte er sich einem lustigen Stoff zu, einer klassischen Kasperl-
geschichte: So wurde 1962 der bekannteste Bandit der Jugendbuchliteratur geboren, der „Räuber Hotzenplotz“. Dieser klangvolle Name war keine Erfindung Preußlers. Vielmehr war ihm ein Städtchen mit Bahnstation im mährischen Schlesien in Erinnerung geblieben: das tschechische Osoblaha. Oder zu Deutsch: Hotzenplotz.

Hotzenplotz’ Raub der großmütterlichen Kaffeemühle führt zu Verwicklungen, die 1969 und 1973 auch noch zwei Folgebände füllen sollten. Eigentlich wollte Preußler keine Fortsetzung schreiben, doch seine Leserschaft hatte ihn mit Tausenden Zuschriften und Vorschlägen regelrecht dazu genötigt. Preußler wollte jeden Kinderbrief lesen und persönlich beantworten. Nicht selten signierte er mit „Räuber Hotzenplotz“. 

Kampf um die Freiheit

Sein Erfolgsrezept? In jedem seiner Werke, so der Autor, stecke „ein Stück meines gelebten Lebens“, und „der ganze Preußler“. In besonderer Weise gilt dies für Preußlers 1971 erschienenem Jugendroman über den sorbischen Waisenjungen und Zauberlehrling „Krabat“, der durch schwarze Magie in Versuchung geführt wird, ehe er erkennt, worauf er sich eingelassen hat, und den Kampf um die Freiheit aufnimmt. 

Der Autor kannte jene Volkssage der Lausitzer Wenden seit seiner Kindheit. Nun diente der Stoff als Allegorie für Preußlers traumatische Erfahrungen mit dem Dritten Reich und dem Stalinismus: „Es ist zugleich meine Geschichte, die Geschichte meiner Generation, und es ist die Geschichte aller jungen Leute, die mit der Macht und ihren Verlockungen in Berührung kommen und sich darin verstricken.“ 

Am 18. Februar 2013 starb der große Geschichtenerzähler für jugendliche Leser und Junggebliebene in Prien am Chiemsee. Zu seinen vielen Preisen und Ehrungen zählt das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Besonders stolz war er auf den „Goldenen Marmeladendeckel“, der ihm von einem oberbayerischen Kinder-Lesezirkel verliehen wurde.

Michael Schmid

18.10.2023 - Jubiläum , Kinder , Literatur