Vor 60 Jahren gestorben

Irischer Priester Hugh O’Flaherty: Der Henker und sein Priester

Mehr als 6000 Menschen rettet der Vatikan-Diplomat und Priester Hugh Joseph O’Flaherty mit Mut, Tatkraft und Geschick das Leben. Sein Gegenspieler ist der Kommandeur der Sicherheitspolizei und des NS-Sicherheitsdiensts in Rom, Herbert Kappler. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es wiederum O’Flaherty, der jenen „Henker von Rom“ in die Kirche bringt.

1959 spricht der aus Irland stammende Vatikan-Diplomat die Taufformel über Kappler. Zu lebenslanger Haft ist der Täufling verurteilt – unter anderem wegen des Massakers in den Ardeatinischen Höhlen, bei dem 335 Geiseln erschossen wurden. Während der knapp neunmonatigen Besatzung Roms glich das Verhältnis der beiden einem mörderischen Katz-und-Maus-Spiel. Wie kommt es, dass der Priester den einstigen Nazi nun in die katholische Kirche aufnimmt? 

O’Flaherty kommt am 28. Februar 1898 als Ältestes von vier Kindern im Südwesten Irlands zur Welt. Nach seiner Schul- und Studienzeit begibt er sich 1921 zum Studium nach Rom. Er wird Diplom-Theologe und empfängt am 20. Dezember 1925 seine Priesterweihe. 1928 ist er dreifacher Doktor in Theologie, Kanonischem Recht und Philosophie. In der Freizeit boxt er, spielt leidenschaftlich Golf und begeistert sich für Handball und Hurling, einen irischen Schlagballsport. 

Er spricht neun Sprachen

In den diplomatischen Dienst des Vatikans tritt O’Flaherty 1934. Da ist er bereits Monsignore. Durch die neun Sprachen, die er fließend spricht, setzt man den talentierten und in der vornehmen Gesellschaft gut vernetzten Mann für diplomatische Schachzüge in verschiedensten Ländern ein. Zu seinen Stationen zählen Ägypten, Haiti, Santo Domingo und die Tschechoslowakei. Der Ruf zurück ereilt den Mon­signore 1938: Der Vatikan benötigt ihn beim Heiligen Offizium, der späteren Glaubenskongregation. 

In Rom bekommt O’Flaherty die dramatischen Folgen des Zweiten Weltkriegs hautnah zu spüren. In Norditalien betreut er Kriegsgefangenenlager seelsorglich. Bei dieser Tätigkeit macht er Vermisste ausfindig und nennt – zum Trost der Angehörigen – deren Namen über die Rundfunkwellen von Radio Vatikan. Spätestens ab Juli 1943 hat der Priester ein Netzwerk von Laien, Priestern und Ordensleuten ins Leben gerufen, das Verfolgten dabei hilft, abzutauchen. 

Lebensrettende Hilfe

Nach dem Sturz des italienischen „Duce“ und NS-Verbündeten Benito Mussolini und dem Einmarsch der Wehrmacht erweist sich: Dieses Netzwerk ist für viele Menschen lebensrettend. Seine Hilfsaktionen koordiniert der Monsignore vom Priesterkolleg am Campo Santo Teutonico aus, dessen Rektor Hermann Maria Stoeckle ihn gewähren lässt. Nachdem Adolf Hitler Papst Pius XII. eindringliche Warnungen aussprechen lässt, kann O’Flaherty sein Werk dennoch fortsetzen – wenn auch ohne offizielle Erlaubnis seiner Vorgesetzten. 

Entflohene alliierte Kriegsgefangene, Flüchtlinge und Juden werden so über geheime Fluchtwege an mehr als 60 verschiedenen Orten in Rom versteckt. Unterschlupf finden die Verfolgten in Kirchen, Klöstern, Wohnhäusern von Sympathisanten und Priesterseminaren. Häufig werden die Hilfesuchenden zur Tarnung als Mönche, Nonnen oder arme Arbeiter verkleidet und sogar mit gefälschten Papieren ausgestattet. Auch für Nahrung, Kleidung und Medikamente sorgt O’Flahertys Netzwerk. 

Priester als Strippenzieher

„Dreistigkeit siegt“, denkt sich der Monsignore wohl, als er seine Schützlinge sogar neben der Zen­trale der Gestapo und in einer italie­nischen Kaserne unterbringt. Jeden Abend steht der stets hilfsbereite Priester an den Stufen von St. Peter, um als Ansprechpartner für Verfolgte zur Verfügung zu stehen. Herbert Kappler, dem römischen Gestapo-Kommandanten, ist bald klar, dass O’Flaherty der Strippenzieher eines Netzwerks sein muss. 

So beschatten den Priester von jetzt an im Auftrag der Deutschen Agenten und spezialisierte Soldaten. Kappler beauftragt eine weiße Linie, die die Grenze zwischen dem 44 Hektar großen, souveränen Vatikan und dem vom Deutschen Reich besetzten Rom markiert. Dem irischen Priester droht der Gestapo-Chef unverhohlen, dass er bei Übertretung der Linie augenblicklich erschossen werde. 

Der irische Geistliche bietet seine ganzen Theaterkünste auf, indem er sich als Straßenkehrer, als Postbote, als Handwerker oder sogar als Nonne verkleidet. So kann er sich unbemerkt zwischen dem Vatikan und dem besetzten italienischen Staats­gebiet bewegen. Einmal, als deutscher Soldat verkleidet, entgeht er um Haaresbreite einem Attentat. Den Versuch von zwei Gestapo-Agenten, Monsignore O’Flaherty zu entführen, vereiteln vier stramme Schweizergardisten. 

Auf die Befreiung Roms am 4. Juni 1944 folgt im Mai 1945 die Festnahme Kapplers. 1948 wird der „Henker von Rom“ zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Während seiner Haft besucht ihn ausgerechnet sein Gegenspieler aus Rom monatlich. Zu seinem späteren Verhältnis zu Kappler meint O’Flaherty: „So weit bin ich gekommen, mit diesem Mann, der 30 000 Lire auf meinen Kopf ausgesetzt hatte. Und jetzt sind wir so was wie Kumpel.“ 1959 bittet Kappler darum, durch die Taufe in die Kirche aufgenommen zu werden. 

Zwei Schlaganfälle

Bis zu einem ersten Schlaganfall im Juni 1960 arbeitet O’Flaherty beim Heiligen Offizium. Zur Genesung zieht er zu seiner Schwester, die im irischen Cahersiveen lebt. Nach seiner Genesung wirkt O’Flaherty als Berater des Erzbischofs von Los Angeles. Nach weiteren zwei Jahren verschlechtert sich sein Gesundheitszustand so rapide, dass er wieder zu seiner Schwester ziehen muss, die ihn fürsorglich pflegt. Fünf Monate darauf erleidet er einen zweiten Schlaganfall, der ihn am 30. Oktober 1963 mit 65 Jahren aus dem Leben reißt. 

Der Filmklassiker „Im Wendekreis des Kreuzes“ (1983) setzt den Widerstand O’Flahertys bildreich in Szene. Die Lebensgeschichte des irischen Geistlichen ist heute Teil des Lehrplans der Schulen seines Heimatlandes. Eine „Hugh O’Flaherty Memorial Society“ bewahrt sein Andenken. Vor zehn Jahren stiftete sie in Killarney ein Bronzedenkmal, welches den Mon­signore in Lebensgröße zeigt.

Elmar Lübbers-Paal

26.10.2023 - NS-Zeit , Priester , Vatikan