Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung

Ein Absturz mit Chancen

Den Kirchen in Deutschland steht ein Absturz bevor. In 20 Jahren haben sie vielleicht die Hälfte ihre Mitglieder verloren. Was danach kommt, ist ungewiss. Die katholische ist noch gefährdeter als die evangelische. Das geht aus der am 14. November veröffentlichten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) hervor. Die katholische und die evangelische Kirche haben sie gemeinsam in Auftrag gegeben.

Die evangelische macht das schon zum sechsten Mal seit 1972. Sie ist damit wohl die am besten soziologisch erforschte Kirche der Welt. Erstmals hat sich die katholische Kirche beteiligt. Die Untersuchung ist zudem die bisher größte Datenerhebung über die Kirchen in Deutschland. Das Sozialwissenschaftliche Institut der evangelischen Kirche stellte dazu mehr als 5000 Katholiken, Protestanten und Konfessionslosen fast 600 Fragen. Die Auswertung wird sich bis ins nächste Jahr ziehen. Der Wind weht den Kirchen, so wie sie jetzt sind, bald mit Orkanstärke ins Gesicht. Jetzt wird es wichtig, sagt der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf, „eine Form von Kirche zu finden, die sich nicht zurückzieht“.

Die Daten zeigen einen immer größeren Abbruch bei der Mitgliedschaft und der Beteiligung. Die katholische Kirche, die lange stabiler war als die evangelische, erodiert mittlerweile schneller. Die beiden großen Kirchen haben die Bevölkerungsmehrheit im vergangenen Jahr verloren. Derzeit sind 43 Prozent der Menschen konfessionslos, 25 Prozent katholisch und 23 evangelisch. 2021 sagte eine Untersuchung der Universität Freiburg die Halbierung der Mitgliedschaft in 40 Jahren voraus.

Aber die Halbierung könnte schon in 20 Jahren kommen, hat die KMU festgestellt. Denn die Abwendung vor allem von der katholischen Kirche beschleunigt sich. Die Austritte schwellen an und die Taufzahlen gehen zurück. Dazu kommt ein Einbruch bei der Kirchensteuer. Droht eine Entwicklung wie bei den niederländischen Kirchen? Dort gingen die Zahlen nach einem anfänglich sanften Rückgang in den freien Fall über.

Die Studie warnt, die Entwicklung auf die leichte Schulter zu nehmen: Diejenigen, die vor zehn Jahren mit dem Gedanken an einen Austritt spielten, seien mittlerweile alle ausgetreten. Nach der KMU denken zwei Drittel der Protestanten und drei Viertel der Katholiken über einen Austritt nach. Nur sechs Prozent der Protestanten und vier Prozent der Katholiken bezeichnen sich als gläubig und kirchennah. 33 Prozent der Protestanten und 36 Prozent der Katholiken fühlen sich der Kirche verbunden, aber mit starker Kritik.

Bei Protestanten wächst die Gleichgültigkeit gegenüber der Kirche, bei den Katholiken die Wut über sexuellen Missbrauch, die Hierarchie, die langsame Aufarbeitung und die Zähigkeit bei Reformen. „Katholische äußern heute in Deutschland eine größere Distanz gegenüber ihrer Kirche als Evangelische“, sagt die Studie. „Ihre Forderungen nach Reformen weichen stärker von der kirchlichen Wirklichkeit ab; vermutlich sind deshalb in den letzten Jahren mehr Katholische als Evangelische aus ihrer Kirche ausgetreten.“

Katholiken lehnen zum Beispiel den Zölibat genauso stark ab wie Protestanten, und beide fordern gleich stark etwa die Segnung homosexueller Partnerschaften. Die Frömmigkeit lässt nach. Der Anteil der Menschen, die täglich beten, nahm in den vergangenen 20 Jahren unter Protestanten nur leicht von 17 auf 15 Prozent ab. Unter den Katholischen halbierte er sich von 29 auf unter 15 Prozent.

Was kann man tun? Eine Rückkehr zu größerer Frömmigkeit? Das eigene Profil stärken? Die Befragten erwarten das am wenigsten. Kirchenmitglieder wie Konfessionslose schätzen vielmehr das Engagement für Schwache, also ausgerechnet die von manchen Verantwortlichen kritisierte Caritas. Und sie wollen, dass beide Kirchen gemeinsam tätig werden, zum Beispiel beim Religionsunterricht und ihrem Engagement für die Menschen. Was die Kirchen zu ihrem Wesenskern zählen, Sakramente und Gottesdienst, kommt bei den meisten Menschen kaum an. Sie wollen, dass Kirchen soziale Wärme und Solidarität stiften.

Positiv schlagen Angebote wie Erstkommunion und Firmung zu Buche. Die sind für die Vermittlung des Glaubens wichtiger geworden als die Familie. Und der Kontakt zu einem Pfarrer – von denen die katholische Kirche viel zu wenig hat – steht nach wie vor hoch im Kurs. „Die Kirche muss ihre Anstrengung verstärken, ihre Botschaft in einer Sprache zu formulieren, die anschlussfähig ist“, so das Ergebnis der Untersuchung.

Es kann sie vielleicht ermutigen, dass sie, auch wenn sie sich halbiert, eine der größten Stifterinnen des gesellschaftlichen Zusammenhalts bleibt. Sie muss Wege finden, ihre unbestrittene gesellschaftliche Rolle mit einem gewinnenden Reden über den Glauben und die Hoffnung zu verbinden, die derzeit wenig gefragt sind.

Der Autor, Wolfgang Thielmann, ist evangelischer Pastor und Journalist.

15.11.2023 - Glaubensleben , Kirchen , Studie